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Der Bundeskönig – 1914

Das ehemalige Schützenhaus [1]

Das ehemalige Schützenhaus

Dieser Artikel wurde aus der Festschrift zum 125. jährigen Jubiläum der Schützengilde Neutomischel und des 18. Bundesschießens des Schützenbundes Neumarkt-Posen aus dem Jahr 1914 entnommen.
Zur Verfügung gestellt wurde die Kopie des Beitrages zur Veröffentlichung auf dieser Seite von Herrn Dieter Maennel, Kassel aus dem von ihm gepflegten MAENNEL ARCHIV

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Eine beinahe wahre Begebenheit, die tragisch beginnt, aber fröhlich endet

„Heute über vierzehn Tage ist also der große Tag“, so begann der biedere Bäckermeister. Stadtverordnete und diesjährige Schützenkönig Gustav Hannebom zu seiner mit der Morgentoilette beschäftigten Ehegattin Klara, „an welchem es sich offenbaren soll, wer die Würde des Bundeskönigs erringen wird. Die ganze Stadt, ja der ganze Schützenbund Neumark-Posen sieht dem Tage mit Spannung entgegen — —.“ „Schon wieder die vermaledeite Schützengeschichte“ unterbrach ihn in anscheinend recht gereizter Stimmung seine Ehehälfte, „ich möchte rasend werden, wenn ich nur das Wort “Bundesschießen“ höre: kein Tag vergeht, an dem ich nicht zwanzigmal an diesen kindischen und höchst  überflüssigen Schützenkram erinnert werde, und doch ist alles nur das Werk ungebildeter Alltagsmenschen, die auch nicht die Spur einer höheren Geistesrichtung besitzen und nur Sinn für eine längst nicht mehr zeitgemäße und deshalb unberechtigte Sache haben. Ich bitte dich des­halb zum letztenmal : verschone mich mit Schützenkram und Bundesschießen und kehre der Sache endlich den Rücken!“

„Aber teure Klara,“ versuchte der Gatte einzuwenden, „bedenke doch, welche Ehrungen mir erst jetzt wieder zuteil wurden, als ich beim Pfingstschießen den besten Schuss abgegeben hatte und zum Schützenkönig feierlich proklamiert wurde Sogar der Herr Regimentskommandeur hat mir die Hand geschüttelt und zu mir gesagt: „Das war brav von Ihnen, Hannebom, auf einen guten Schützen sieht auch das Vaterland mit Stolz, fahren Sie so fort!“ Und nun gar erst der Herr Bürger­meister, wie hat er mich in seiner Rede gefeiert, wie hat er noch ganz besonders hervorgehoben, dass gerade die Schützenbrüder sich als treue Staatsbürger gezeigt haben, als es 1848 galt, der polnischen Aufstandsbewegung entgegenzutreten. Kurz und gut, ich lasse auf die Schützen nichts kommen, denn sie sind auch eine Stütze des Staates.“

Für diese mit großem Pathos vorgetragene Erwiderung hatte die Gattin leider nur ein überlegenes, höhnisches Lächeln. „Eine schöne Stütze des Staates“ müssen deine Schützenbrüder abgeben, wenn es möglich war, dem einen das Pulver aus den Patronen ganz wegzu­nehmen und einem anderen dafür Schokoladenpulver einzufüllen. Oder wird der Staat etwa besonders gestützt, wenn beim Schießen die Büchse zerplatzt, weil, wie es Onkel Julius passierte, der Eisenwurm das Schloss zerfressen hatte? Darum wiederhole ich: lass den ganzen Trödel sein, es warten deiner andere Aufgaben, die eines Stadtverordneten und besseren Bürgers würdig sind. Suche dich und deine Familie geistig zu heben, schließe dich der gebildeten Gesellschaft an und mache dich nützlich  auf dem  Gebiete  ersprießlicher  Vereinstätigkeit.“

„Alles was recht ist, liebe Klara, wegen der Vereinstätigkeit bin ich ganz deiner Ansicht. Hat doch neulich erst der Postmeister behaup­tet, wir hätten hier zu wenig Vereine. Es fehle noch ein „Verein gegen Verarmung der Bierbrauer“ und ein „Verein zur Beschaffung von Pelzmützen für arme Negerknaben“ sagte er. Und er muss wohl recht haben, denn mit der Gründung des ersten Vereins soll es losgehen, sobald das Bundesschießen vorüber ist, Vorstudien dazu sind schon jetzt wöchentlich zweimal in Wandreys Hinterzimmer im Gange und wegen des anderen Vereins wird wohl an den Frauenverein herangetreten werden müssen, weil dieser dazu geeigneter ist. Aber was die Bildung anbelangt, so musst du doch zugeben, dass ich dafür tue, was nur mög­lich ist. Seit anderthalb fahren schon halte ich für dich die „Garten­laube“ und für unsere Else die „Modenwelt“. Unsern Fritz schicke ich dir zuliebe auf die höhere Schule, damit er Lateinisch und Griechisch lerne, denn die ollen Römers und Griechen sollen ja so viel Bildung besessen haben, dass man den Überschuss davon auf Flaschen ziehen konnte. Aber große Erfolge habe ich von all‘ meinen Bemühungen bis jetzt nicht gesehen, denn du drangsalierst mich genau so wie früher wegen meiner Zugehörigkeit zur Schützengilde, und Else hat aus der Modenwelt gerade soviel profitiert, dass sie sich wie eine Zierpuppe kleidet.

„Das verstehst du nicht“ warf die Gattin spitz ein, „Else ist mein Erziehungssubstrat, sie kleidet sich modern und so, wie es einer gebildeten jungen Dame zukommt.“

„Dann pfeife ich auf die ganze moderne Bildung. Liegt etwa Geschmack darin, wenn die Kleider einen Zuschnitt haben, als ob der Stoff dazu aus einer Resterhandlung bezogen wäre, weil oben und unten alles zu kurz ist. Und nun gar erst die Strümpfe. Farben haben sie, die es gar nicht gibt, und eigentlich bestehen sie überhaupt nur noch aus Löchern. Wohin soll dieser Unfug noch führen? Und weißt du, was mir neulich der Oberlehrer B. anvertraute? Er sagte mit dürren Worten, das Beste wäre, ich lasse unsern Fritz ruhig Bäcker lernen, denn auf der Schule würde er keine Lorbeeren erringen, und zum Gelehrten passe er, wie der Esel zum Zitherspielen. Ich glaube fast, er hat recht, das Gescheiteste wäre, ich schmeiße seine griechischen Bücher in das Backofenfeuer, dann könnte ich wenigstens das Backwasser damit warm machen. Schuster bleib bei deinem Leisten, das ist ein altes wahres Sprichwort, ich sehe nicht ein, warum unser Junge mein altes, vom Urgroßvater auf mich überkommenes Geschäft, das uns so gut nährt, nicht übernehmen soll, und warum du dagegen bist, dass unsere Else Karl Ehrhardt, den Sohn meines alten lieben Freundes, unseres Bundesvorsitzenden Ehrhardt, den sie so gern hat  heiratet!“

Gustav Hannebom hatte sich arg in die Wolle geredet, und dabei war ihm fast entgangen, dass seine traute Ehehälfte blass vor Wut auf das Familiensofa gesunken war.

„Gustav, du wagst es mir zuzumuten, dass ich meine mütterliche Zustimmung zu einer Verbindung gebe, die meinem Innersten zuwider ist, und noch dazu mit einem mir feindlich gesinnten jungen Manne, dem jedes Verständnis für den Umgang mit einer gebildeten Dame abgeht. Lieber will ich tot sein, als jemals in die Lage kommen, meinen Begriffen von Takt und guten Sitten untreu zu werden. Darum sage ich dir zum letztenmal, wenn es dir je einfallen sollte, diese schrecklichen Worte zu wiederholen, dann gehe ich in den Tod, und wenn du deiner unseligen Leidenschaft für den Schützenkram nicht entsagst und das Bundesschießen mitmachst, dann — dann siehst du mich nicht wieder!“

Fort war sie, und mit offenem Munde sah ihr Gustav sprachlos nach.

Schwere Sorgen waren über Gustav Hannebom hereingebrochen. Hier der Kampf mit seinem Pflichtgefühl gegenüber der Schützenbrüderschaft, dort das in Aussicht stehende Drama in der eigenen Familie, dazu eine erneute Mitteilung des Oberlehrers über recht unbefriedigende Leistungen des Stammhalters Fritz, Verdruss im Geschäft und Ärger darüber, dass nach seinem Empfinden die Stellungnahme der städtischen Vertretung zu dem Bundesschießen eine völlig unzureichende sei. Alles nagte an dem Herzen des sonst so gutmütigen und zufriedenen Bäcker­meisters. Zuhause hatte er das Gefühl, als ob er auf einem Vulkan sitze, der in jedem Augenblick seine vernichtende Tätigkeit beginnen müsse. Sich einem anderen mitfühlenden Herzen anzuvertrauen, das ließ sein Mannesstolz und seine Würde als Stadtverordneter und Schützenkönig nicht zu. Was blieb ihm also weiter übrig, als seinen Unmut nach dem Vorbilde anderer Leidensgefährten in einem kühlen Schoppen zu ertränken. Gedacht, getan, und bald saß unser Gustav Hannebom in, seinem gewohnten Stammlokal. Aber auch hier schien ihm die Lebens­freude vergällt zu werden, denn schon bei seinem Eintritt war ihm nicht entgangen, dass verschiedene seiner ihm sonst so zugetanen Gesinnungsgenossen ihn anfeixten und hinter seinem Rücken Glossen über ihn machten. Seine Lage wurde auch nicht besser, als ihn sein bald darauf eintretender Busenfreund, der Fleischermeister Wilhelm Schulze, mit den etwas herausfordernden Worten begrüßte: „Na Gustav, was ist dir, du siehst heute so vergeistigt aus. Hat dir dein Inventarium eine Gar­dinenpredigt gehalten, oder ist dir sonst eine Laus über die Leber gelaufen?“ Schwer nur entschloss sich unser Freund mit einigen abwehrenden Worten zu antworten, aber bald sah er sich von seinen Freunden umringt, und da er sich unvorsichtigerweise auf das altersschwache Leder­sofa hinter dem runden Stammtisch gesetzt hatte, gab es kein Entrinnen mehr. „Halt dir feste, Gustav“, „Du bleibst unser Stolz, unser Schützenkönig“, „kein Deuwel soll dir uns abwendig machen“, lass man, wir helfen dir alle“, so ging es von allen Seiten auf ihn ein, und unser braver Hannebom hatte bald wieder Ruhe und Fassung gefunden.

Was soll ich von dieser traulichen Sitzung viel erzählen. Sie verlief wie alle ähnlichen Sitzungen, in denen viel von Manneswürde, Einigkeit und Freundschaft, Treue und Eifer für die übernommenen Pflichten und dergleichen gesprochen wird, und in denen auch der feuchte Teil zu seinem Recht kommt, und sie endete zu früher Morgenstunde, als auch unser lieber Hannebom, von seinen Busenfreunden Schulze und Westermann geleitet, etwas schwanken Schrittes seinen heimatlichen Penaten zusteuerte, wo er gerade eintraf, als der Geselle das erste Frühstücksgebäck aus dem Ofen brachte. Obwohl er auch später als sonst und mit etwas Haarwurzelkatarrh erwachte, war ihm doch be­deutend leichter ums Herz, und wenn ihm auch nicht all die schönen ermunternden Ansprüche seiner Gesinnungsgenossen in der Erinnerung haften geblieben waren, so entsann er sich doch lebhaft seiner eigenen Worte: „Kinder, mag es kommen, wie es will, ich bin der Eurige und bleibe der Fahne treu!“

Der „große Tag“ war gekommen, Zapfenstreich, großes Wecken, fahnengeschmückte Straßen, anrückende auswärtige Schützenbrüder, geschäftig hin- und her rennende Mitglieder der verschiedenen „Ausschüsse“, Erwartung auf allen Gesichtern und dazu ein lachender sonnenglänzender Himmel, überall Festesstimmung.

Frau Klara hatte bis zum letzten Tage gehofft, dass sie, wie so oft, auch diesmal aus dem Familienzwist als Siegerin hervorgehen müsse. Als sie aber ihre Niederlage einzusehen begann, hatte sie sich, Else gegenüber Migräne vorschützend, in das Schlafzimmer zurückgezogen, ihr sonst so gefügiger Ehegemahl war schon seit fast acht Tagen keines Wortes, keines Blickes mehr gewürdigt worden. Gegen elf Uhr vormittags hatte sich dieser, äußerlich zwar eine würdige Ruhe zur Schau tragend, innerlich aber doch mit einer Beklemmung  behaftet, zum Begrüßungsschoppen nach dem Gildelokal begeben und dort hauptsächlich seinen alten Freund, den Bundesvorsitzenden, Buchbindermeister und Inhaber eines Galanteriewarengeschäfts Ehrhardt aus Schwiehof aufzusuchen und ihn über die peinlichen Vorgänge vertraulich zu unterrichten. Wusste Hannebom doch, dass er an diesem stetes hilfsbereiten und mit gesundem Humor aus­gerüsteten Freunde die rechte Stütze finden würde. Und er hatte sich nicht getäuscht. „Gräme dich nicht, Gustav, was gemacht werden kann, wird gemacht, ich glaube, der Tag wird noch freudig enden!“ Mit diesen traulichen Worten klopfte Ehrhardt seinem Hannebom auf die Schulter, und der Frühschoppen nahm nach allseitiger herzlicher, Be­grüßung einen fröhlichen Verlauf.

Gegen Mittag Hornruf: „das Ganze sammeln“, bald darauf: Antreten, Abholung der Fahnen und Ehrengäste vom Rathaus und Ausmarsch nach dem Festplatz. Beginn des Schießens usw.

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Hotel „Schwarzer Adler“ – Werbung in der Festschrift

Doch mit des Geschickes Mächten ist kein ew’ger Bund zu flechten, und das Unglück schreitet schnell! So ging es auch unserm braven Hannebom, oder richtiger seiner besseren Hälfte. Kaum hatte der Fest­zug das Städtchen verlassen, als bei Hanneboms der bestellte Hotel­wagen des »Schwarzen Adlers“ vorfuhr, wie immer zu spät, um hier die Frau des Hauses zum Nachmittagszuge nach Berlin abzuholen. Diese war mit den Reisevorbereitungen natürlich auch noch nicht fertig, und so konnte es nicht ausbleiben, dass der Wagen mit fast zehn Minuten Verspätung absauste. „Zu große Hast macht ungeschickt“. Dieses Dichterwort sollte sich auch heute wieder bewahrheiten, denn kaum war der Wagen hundert Meter hinter der Ortsgrenze, als er infolge Ungeschicks des Kutschers beim Überholen eines Goldmann’schen Rollwagens mit dem Hinterrade an diesen anrannte und sicher umgestürzt wäre, wenn ihn nicht eine ganz in der Nähe stehende Telegraphenstange aufgehalten hätte. (Hieraus kann man ersehen, dass Telegraphenstangen nicht immer nur ein Verkehrshindernis sind.) Trotzdem konnte es nicht ausbleiben, dass sich der Hotelwagen bedenklich auf die rechte Seite neigte, und dass seine Insassin Klara Hannebom mit Kopf und Armen durch die Wagenscheiben fuhr. Entsetztes Aufschreien, blutiges Gesicht, desgleichen Hände und der unvermeidliche Ohnmachtsanfall. Europa blieb ruhig.

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Rollwagen der Goldmann & Co.

Doch die Hilfe war nicht fern. Ein junger fremder Schützenbruder passierte in dem Schreckensaugenblick die Unfallstelle mit seinem Fahrrade. Abspringen, die Situation überschauen, den Wagen mit Hilfe einiger des Weges daherkommender anderer Leute aufrichten und der Insassin aus der gefährlichen Lage helfen, war das Werk eines Augen­blicks. Ein glücklicher Zufall wollte es außerdem, dass der Retter als Mitglied einer Sanitätskolonne mit »der ersten Hilfeleistung bei Unfälle»“ völlig vertraut war und — was ein umsichtiger ,Sanitäter“ immer tun muss — das wichtigste Verbandzeug bei sich trug. Wasser war aus einem nahen Gehöft bald beschafft, die nötige Reinigung der Verletzten konnte also gleich an Ort und Stelle vorgenommen werden, für einen kunstgerechten Verband sorgte der Retter, und nach Verlauf einer knap­pen Viertelstunde konnte Klara mit dem Unglückswagen wieder nachhause fahren, denn der Berliner Zug war inzwischen freilich abgedampft. Fast gleichzeitig mit dem Wagen traf auch der hilfsbereite junge Schützenbruder am Hannebom’schen Hause an, aus dessen Tür etwas aufgeregt ein blasses junges Mädchen trat. Aus ihren verweinten Augen konnte man auf Herzeleid schließen. Es war Else Hannebom, die tieftraurig über das Ausbleiben ihres Karl sich zuhause eingeschlossen hatte, um nicht der Welt zeigen zu brauchen, was an ihr nagte. Die unerwartet schnelle Rückkehr des Wagens, der gerade ans ihr Haus zusteuerte, ließ nichts Gutes ahnen. Als in dem Wagen nun gar die Mutter mit ver­bundenem Kopf sichtbar wurde, gesellte sich zu dem Herzeleid auch der Schreck, und mit jähem Aufschrei stürzte sich Else auf die Wagentür. Doch wer beschreibt ihr Erstaunen, als von der anderen Seite des Wagens ihr Karl hervorsprang. Ein kurzer flüchtiger Gruß, einige Worte der Aufklärung an Else, und schon war Karl dabei, die Ver­unglückte aus dem Wagen zu heben und sie nach der Wohnung zu ge­leiten. Hier neue Überraschung, als Frau Klara erst jetzt ihren Retter erkannte, der aber, ohne ein Wort zu erwidern, ebenso schnell das Zim­mer verlassen hatte, um vernünftigerweise ärztliche Hilfe herbeizuholen. Wenige Minuten später erschien er auch mit dem stets hilfsbereiten Doktor Mönke, den er gerade in dem Augenblick ergattert hatte, als sich dieser nach dem Festplatz begeben wollte. Die sogleich vorgenommene Untersuchung ergab, dass es sich glücklicherweise nur um leichte Kontusionen im Gesicht und an den Händen und um eine Verstauchung des linken Armes handelte. Einfach waren deshalb auch des Doktors Verord­nungen. Kühlende Umschläge, eine Binde, um den Arm zu stützen, und eine Stunde Ruhe. „Dann kommen Sie aber bestimmt nach dem Schützenplatze, ich werde Ihren Mann inzwischen über den Vorfall ver­ständigen“, so schloss der Doktor seine Anordnungen. Karl Ehrhardt besorgte, was noch zu besorgen war, tröstete Mutter und Tochter, was ihm natürlich von letzterer einen ganz besonderen Dank eintrug, und folgt dann dem  Doktor.

Auf dem Schützenplatz war es inzwischen, wie nicht anders mög­lich, recht heiter zugegangen. Auch das Ringen nach der Würde des Bundeskönigs war heftig entbrannt und, o Wunder, bis zur Stunde hatte der Bäckermeister und Stadtverordnete Gustav Hannebom die beste Aussicht die Palme des Tages zu erhalten. Freilich war die Nachricht von dem Unfall seiner Ehegattin nicht spurlos an ihm vorüber gegangen, dazu besaß er eben ein viel zu gutes Herz, aber einerseits lag der Schießerfolg bereits hinter ihm, und andererseits trug die Versicherung des Doktors und Karl Ehrhardts, dass er ganz ohne Sorge sein dürfe, zu seiner völligen Beruhigung bei. Aber es sollte noch schöner kommen. Nach Verlauf von knapp anderthalb Stunden stürmte sein Freund Wil­helm Schulze auf unseren Hannebom mit den Worten: „Gustav, freu‘ Dir, Deine Gattin ist da!“ Von allen Seiten umringt und beglück­wünscht hatte Klara, begleitet von Else, neben dem Musikpavillon Platz genommen, ihrem Gustav war es nicht möglich zu ihr zu gelangen. Besonders die Damen von dem freiwilligen Krankenpflegekursus und die Vorsitzende des Frauenvereins nahmen es als ihr Recht in Anspruch, die Heldin des Tages zu feiern, und die Frau Vorsitzende hatte ihr das Versprechen abgenommen, nun ein recht tätiges Mitglied dieses nützlichen Vereins zu werden.

Die Zeit war inzwischen fortgeschritten. Hanneboms Königsschuss konnte trotz heißen Ringens nicht übertroffen werden, und die Proklamierung unseres Freundes zum Bundeskönig durch den Vorsitzenden nahm ihren programmässigen Verlauf. Namens der Stadt beglück­wünschte der Herr Bürgermeister den Würdenträger mit herzlichen Worten, an welche er gleichzeitig die neue überraschende Mitteilung knüpfte, dass die Stadtverordnetenversammlung den Bäckermeister Gustav Hannebom in Anbetracht seiner rührigen Tätigkeit als Stadtverordneter zum Ratsherrn gewählt habe.  Hurra dem Bundeskönig und Ratsherrn,Tusch, Glückwünsche. Umarmung auch von seiten der teuren Gattin usw.

Etwas abseits von dieser Gruppe stand, stumm die Hände inein­ander gefügt, ein schmuckes Pärchen, das wir bereits kennen: Else und Karl. Zwar bisher noch unberührt von dem erhofften Glückstrahl, war es beiden doch zur überzeugenden Gewissheit geworden, dass heute auch ihr Geschick eine günstige Wendung nehmen müsse. Und so kam es auch. Gustav Hanneboms Blick war kaum auf die Liebenden gefallen, als er sich zu ihnen drängte, beide zur Mutter führte und sich an diese mit den Worten wendete: „Klara, mach das Glück des heutigen Tages ganz voll und gib den Kindern deinen Segen.“ »Jawohl, liebste Freundin“, so stürmte auch der brave Bundesvorsitzende Ehrhardt auf die noch mit sich selbst ringende Frau Ratsherrin ein, „diese Tat wird dem heutigen glücklichen Tage erst die Krone geben, seien Sie dem Glücke unserer Kinder kein Hindernis. Am ersten Oktober übernimmt Karl mein bedeutend erweitertes Geschäft, ich habe die Firma gerichtlich eintragen lassen, mein Sohn ist also kein simpler Buchbinder mehr, son­dern ein richtig gehender Kaufmann, Else wird er auf Händen tragen!“

In Klaras Innern hatte das mütterliche Herz gesiegt. Festen Schrittes ging sie auf die Kinder zu und fügte beider Hände ineinander: „Er war mein Retter, ich willige ein, seid glücklich!“

Rührung auf allen Seiten. „Hoch das Brautpaar“, „Hoch unser Bundeskönig“, »Hoch unser Schützenkönig“, so klang es durcheinander, und so harmonisch endete der erste und wichtigste Tag des Bundesfestes.