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Eine Mordnacht in einem Abbau bei Sontop – 1858 – Teil 2

Was bisher geschah: Die Witwe Lüdtke aus einem Abbau bei Sontop zeigt beim Schulzen Hoffmann aus Sontop an, dass ihr Sohn Robert seinen Onkel – den Gottlieb Lüdtke – und seinen Bruder – den Eduard Lüdtke – in der Nähe des Wohnhauses in einem fast ausgetrockneten Wasserloch aufgefunden habe. Beide wiesen eine durchschnittene Kehle auf.

* * *

Das Zimmer des Gottlieb Lüdtke war mittels Abziehen des Türdrückers verschlossen und der Drücker nicht vorhanden. Der Schulze stieg durch das Fenster in die Stube, bemerkte aber nichts Auffallendes; nur eine Flinte, welche Gottlieb Lüdtke besessen hatte, wurde vermisst. Die Betten des Gottlieb und Eduard Lüdtke waren unberührt.

Dass hier ein furchtbares Verbrechen verübt war, konnte von vornherein keinen Zweifel unterliegen. Die Witwe Lüdtke deutete die Möglichkeit an, dass Gottlieb Lüdtke, der nach ihrer Angabe dem Trunke sehr ergeben und zu Gewalttätigkeiten geneigt war, erst den Eduard ermordet, dann sich selbst entleibt haben könnte. Aber des bedurfte keines ärztlichen Gutachtens, um die inzwischen durch Eilboten aus Grätz an Ort und Stelle berufenen Beamten des Gerichts und der Staatsanwaltschaft von der Unmöglichkeit eines solchen Hergangs zu überzeugen. Denn eine Halswunde wie die des Gottlieb Lüdtke konnte sich niemand selbst beigebracht haben, noch weniger hätte ein so verwunderter Mensch eine Ziege schlachten und diese in der angegebenen Art an seinem Körper befestigen können; endlich war das vorgefundene stumpfe und schwache Messer durchaus ungeeignet, solche Verletzungen hervorzubringen.

Es tauchte ein anderer Verdacht auf. Gottlieb Lüdtke hatte zwar eine Ziege besessen, sie befand sich aber wohlbehalten im Stalle. Die geschlachtete Ziege war also höchst wahrscheinlich gestohlen. Wie, wenn Gottlieb und Eduard Lüdtke diesen Diebstahl verübt, wenn die Bestohlenen sie verfolgt und einen Akt der Rache an ihnen vollzogen hätten ? Auch diese Vermutung bestätigte sich nicht. Noch im Laufe des Vormittags meldete sich der Tagearbeiter Weber aus dem eine Viertelmeise entfernten Dorfe Paprotsch, ein völlig unbescholtener, im besten Rufe stehender Mann, und erzählte: Früh um 4 Uhr sei ihm eine Ziege aus dem unverschlossenen Stalle entwendet worden, er habe die Spuren des Tieres und die eine Mannes ein Stück Weges und zwar in der Richtung nach dem Abbau, verfolgt, dann aber auf einer sandigen Fahrstraße verloren und erst einige Stunden später von den Vorfällen in dem Abbau erfahren; er erkannte die tote Ziege mit Bestimmtheit als die ihm gestohlene an. Weber beschrieb die Fußspuren sehr genau; der Dieb hatte mit Nägeln beschlagene Stiefel getragen, deren Absätze auffallend schief getreten waren; auf der einen Sohle war der Abdruck eines Flickens deutlich sichtbar gewesen.

Sofort angestellte Ermittlungen ergaben, dass Weber, ein kleiner schwächlicher Mann, diese Spuren auch anderen Personen in Paprotsch gezeigt und sich dann ganz allein und unbewaffnet zur Verfolgung aufgemacht hatte, sowie dass er nach sehr kurzer Zeit wieder heimgekehrt war. Er konnte also nicht der Mörder sein. Ebenso unwahrscheinlich war es, dass die Ermordeten die Ziege gestohlen hatten; an ihren Füßen sah man deutlich, dass sie in der letzten Zeit vor ihrem Tode barfuß gegangen waren, und keiner der in ihrer Wohnung befindlichen Stiefel entsprach jener Beschreibung der Fußspuren. Ein von dem Dorfwächter Menzel inzwischen gemachter Fund gab den bisher aufgetauchten Mutmaßungen eine ganz andere Richtung. Er fand auf einem Zaune hinter dem Wohnhause einen augenscheinlich zum Trocknen aufgehängten, frischgewaschenen, wollenen Weiberrock, in welchem Blutspuren ungeachtet der Wäsche nicht zu verkennen waren. Ernestine Lüdtke erklärte den Rock mit völliger Unbefangenheit für ihr Eigentum; das Blut sollte von ihrer tags zuvor eingetretenen Menstruation herrühren. Sie wurde angewiesen, den Rock anzuziehen. Was die Gerichtspersonen nach dem ersten Augenschein vermutet hatten, traf ein: der Rock war für die volle üppige Gestalt des hochgewachsenen, kräftigen Mädchens viel zu kurz und zu eng. Sie gab nun an, sie habe den Rock zu Pfingsten von ihrer Cousine, der unverehelichten Ernestine Stankowska, zum Geschenk erhalten und ihn auf dem bloßen Leibe getrogen, Auch dies war nicht recht glaubhaft.

Ernestine Lüdtke und ihre Mutter hatten wiederholt versichert, dass in den letzten Tagen niemand Fremdes, weder Mann noch Weib, bei ihnen verkehrt habe. Der Rock schien mithin von jemand zurückgelassen zu schein, dessen Anwesenheit sie zu verheimlichen Ursache hatten.

Der auf diese Weise entstandene, anfänglich sehr unbestimmte Verdacht, dass Mutter und Tochter mindestens Mitwisserinnen des begangenen Verbrechens sein möchten, wurde durch die Mitteilungen des Schulzen Hoffmann und anderer Dorfbewohner erheblich verstärkt.

Die Witwe Lüdtke war oftmals wegen Holzdiebstahls, ihre Tochter Ernestine zweimal wegen anderer Diebstähle bestraft worden. Die jüngeren Geschwister trieben sich in benachbarten Dörfern bettelnd umher. Der ermordete Gottlieb Lüdtke war als Wildschütz (=Wilderer) berüchtigt gewesen. Er hatte früher den Abbau besessen, ihn sodann an seinen Bruder, den Ehemann der Witwe Lüdtke, verkauft, sich aber beim Verkaufe das Wohnungsrecht in der einen Hälfte sowie die Nutzung der hälftigen, zur Besitzung gehörigen Ländereien auf Lebenszeit vorbehalten und ausbedungen, dass das Grundstück, solange er lebte, nicht verkauft werden dürfte. Von den rückständigen Kaufgeldern für das Grundstück, dessen Taxwert nur 393 Thlr. betrug, sedierte er dem Eduard Lüdtke 200 Thlr. als Geschenk und stellte diese Summe hypothekarisch sicher. Mit Eduard Lüdtke hatte es eine eigene Bewandtnis. Er war zwar bei Lebzeiten des Ehemannes der Luise Lüdtke geboren, aber, wie im Dorfe allgemein bekannt war und von den Beteiligten offen zugegeben wurde, die Frucht eines lange fortgesetzten ehebrecherischen Verkehrs zwischen Gottlieb Lüdtke und der Ehefrau seines Bruders. Nach dem Tode des letzteren trat an die Stelle der früheren verbrecherischen Zuneigung erbitterter Hass. Die Witwe Lüdtke und ihr Schwager Gottlieb hatten fast täglich miteinander Streitigkeiten, die oft in Tätlichkeiten ausarteten; Eduard Lüdtke nahm hierbei stets Partei gegen seine Mutter und lebte seinerseits in beständigem Hader mit seiner Schwester Ernestine. Überdies sagte man der Witwe Lüdtke nach, dass sie Dieben und Landstreichern bereitwillig Obdach gestatte, und Gottlieb Lüdtke hatte deshalb mehrfach, jedoch vergeblich, bei dem Dorfgericht Klage geführt. Noch etwa vier Wochen vor seinem Tode erzählte er dem das schon erwähnte Waldwärterhaus bewohnenden Privatförster Menzel: die Leute bei ihm im Hause nehmen ihm alles fort; auch verkehrten wieder fremde Menschen dort, und wenn die Nacht wieder etwas passierte, werde er ihn zur Hilfe holen, denn zum Schulzen in Sontop sei es zu weit. Er selbst sei zwar nicht schwach, aber man könne doch nicht wissen, was vorfalle.

Die Witwe Lüdtke war demnach die einzige, die erweislich von dem Tode beider Ermordeten erheblichen Nutzen zog, sie hatte mit ihnen in Feindschaft gelebt, sie stand im schlechtesten Rufe; endlich pflegten Personen bei ihr zu verkehren, vor denen Gottlieb Lüdtke sich gefürchtet.

Bald ergaben sich noch gewichtigere Verdachtsgründe gegen sie und gleichzeitig ganz bestimmte Spuren der wirklichen Täter.

Der dreizehnjährige Sohn der Witwe Lüdtke, Robert, hatte anfangs übereinstimmend mit seiner Mutter und Schwester versichert, dass tags zuvor kein Fremder bei ihnen gewesen sei. Er ging seitdem umher wie ein Träumender, weinte viel und schien mit einem Entschlusse zu kämpfen. Man ließ ihn anscheinend unbeachtet, indes war dafür gesorgt, dass er mit Mutter und Schwester nicht verkehren konnte. Gegen Abend wurde er nochmals befragt, ob er nichts auszusagen wisse, was auf die Spur der Mörder führen könne. Nach kurzem Besinnen erklärte er: „Ich will jetzt die reine Wahrheit sagen“, und gab nun die ersten Aufschlüsse über die Vorfälle der letzten Tage.

Er bestätigte zunächst, dass seine Mutter mit den Ermordeten in Unfrieden gelebt und noch am verflossenen Nachmittage sich mit ihnen gezankt und beinahe geprügelt habe. Am 22. Juni fand er, mittags aus der Schule kommend, den Bruder seiner Mutter, den Tagelöhner Wilhelm Girndt aus Neu Boruy, die Ernestine Stankowska, eine Schwestertochter seiner Mutter, und einen ihm bis dahin unbekannten Mann, den die anderen Ferdinand nannten, in der mütterlichen Wohnung anwesend. Die Fremden verkehrten freundschaftlich mit Gottlieb Lüdtke. Am Abend des 22. Juni gingen Girndt, Ferdinand und die Stankowska zusammen fort, kehrten aber in der Nacht zurück und brachten einen geschlachteten Schöps (=Hammel) mit. Am 23. Juni tranken sie mit dem alten Lüdtke und dem Eduard zusammen sehr viel Branntwein, gegen Abend wurden sie so munter, dass sie anfingen zu singen. Sie verabredeten einen Diebstahl, indes erklärte Gottlieb Lüdtke, er wisse noch nicht, ob er teilnehmen werde. Am Abend verließen die drei Fremden das Haus. Gottlieb und Eduard Lüdtke waren in ihrem Zimmer, und Robert legte sich schlafen. Als er bei Sonnenaufgang erwachte, sah er dass seine Mutter in ihrem Bette lag, ohne zu schlafen. Er stand auf und bemerkte, dass die Tür des von Gottlieb und Eduard Lüdtke bewohnten Zimmers von außen verschlossen war. Seine Mutter sagte ihm, beide seien in der Nacht fortgegangen.

Kurze Zeit darauf fand er die beiden Leichen in dem schon beschriebenen Zustande. Er eilte zur Mutter und überbrachte dieser die Schreckensnachricht. Diese entgegnete:

„Sei stille und sage nichts, dass der Ferdinand und der Wilhelm hier gewesen sind, sie haben es getan, aber der Verdacht würde auf mich kommen.“

Die Mitwisserschaft der Witwe Lüdtke war hiernach nicht mehr zu bezweifeln, es währte nicht lange, so stellte sich heraus, dass die Mörder ihre Werkzeuge gewesen waren und einen von ihr längst gehegten Plan ausgeführt hatten.

Die Ehefrau des Brettschneiders Girndt, eines Bruders der Witwe Lüdtke, welche in einem benachbarten Dorfe wohnte, bekundete nämlich Folgendes:

Die Witwe Lüdtke hatte ihr häufig gesagt, dass der Gottlieb Lüdtke ihr Todfeind sei. Etwa um Ostern 1858 äußerte sie: mit dem Alten könne sie es nicht mehr aushalten, den müsse sie sich vom Halse schaffen. Sie würde einmal eine Ziege stehlen, den Gottlieb herauslocken, ihn totschlagen und die Ziege zu ihm legen, damit die Leute glaubten, dass er die Ziege gestohlen habe und dabei ermordet worden sei.

Als Zeugin von dem Auffinden der Leichen und der toten Ziege hörte, fiel ihr jene Äußerung, die sie für Scherz gehalten, wieder ein, und sie begab sich deshalb zu ihrer Schwägerin. Diese teilte ihr mit, ihr Bruder Wilhelm und noch einer aus Rackwitz (ein benachbartes kleines Städtchen) seien dagewesen, und auf die Frage der Girndt: warum die Männer denn so etwas gemacht? antwortete sie: „Ja wenn sie nur nicht betrunken gewesen wären, da hätten sie es auch nicht getan.“

Nunmehr wurden die Witwe Lüdtke und ihre Tochter Ernestine wegen Verdachts der Teilnahme an zwei Mordtaten (Unter Teilnahme an einem Verbrechen begreift das preußische Strafgesetzt auch die Anstiftung zu einem solchen und straft diese das Verbrechen selbst) in gerichtliche Haft genommen. Am nächsten Morgen folgte ihre verantwortliche Vernehmung.

Die Witwe Lüdtke blieb dabei, dass am Tage vor dem Morde kein Fremder bei ihr verkehrt habe. Nur das gab sie nach anfänglichem Leugnen zu, dass Ernestine Stankowska zwei Tage zuvor dagewesen sei und ihrer Tochter den mehrerwähnten wollenen Rock geschenkt habe. Sie bestritt, mit den Ermordeten in Feindschaft gelebt zu haben, und gab an, sie habe gesehen, wie Gottlieb Lüdtke am Abend des 23. Juni seine Flinte geladen, und in der Nacht gehört, wie er mit ihrem Sohne Eduard das Haus verlassen habe. Ihren Bruder Wilhelm Girndt wollte sie seit langer Zeit nicht gesehen haben, und einen Mann Namens Ferdinand gar nicht kennen. Die Angaben ihres Sohnes Robert und ihrer Schwägerin erklärte sie für erlogen.

Ernestine Lüdtke sagte genau dasselbe aus, nur stellte sie auch den Besuch der Stankowska in Abrede und behauptete, diese sei seit Pfingsten (23. Mai) nicht in Sontop gewesen.

Beide wurden in das Gerichtsgefängnis zu Grätz abgeliefert und alle Polizeibehörden in Bewegung gesetzt, um auf den Wilhelm Girndt, den Ferdinand, in welchem man nach der Beschreibung den Tagearbeiter Ferdinand Raschke aus Rackwitz zu erkennen glaubte, und die Ernestine Stankowska zu fahnden. Denn dass man sich zu den beiden Männern, wie der Ausdruck der alten Kriminalisten lautet, der Tat wohl versehen konnte, hatten die inzwischen über dieselben angestellten Nachforschungen ergeben.