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Erinnerungen an Grätz / Grodzisk

Grätz - Alter Markt, links vorn im Bild die frühere Conditorei Jaeger: rechts die Rückseite des ehem. Rathauses / Ansichtskarten Nachdruck [1]

Grätz – Alter Markt, links vorn im Bild die frühere Conditorei Jaeger: rechts die Rückseite des ehem. Rathauses / Ansichtskarten Nachdruck

Vor Jahren saß ich einmal im Kurpark von Warmbrunn und hörte, wie ein Herr am Nachbartisch beim Kellner ein „Glas Grätzer“ bestellt. Ein anderer an demselben Tisch fragte: „Woher kommt eigentlich dieses Bier, das besser „Unbier“ hieße, weil es so schauderhaft bitter und rauchig schmeckt?“

„O“, hieß es „es ist das anerkannt gesündeste Bier, ganz unschädlich, und so erfrischend! Aber woher es kommt? Hm, doch wohl aus Österreich!“

„Nein“, meinte eine Dame, „Sie denken wohl an Graz! Nein, es kommt, glaube ich, aus Sachsen.“

Was – mein berühmtes Grätz wurde so in fremden Ländern herumgeworfen? Ich wollte schon die Banausen belehren, aber ich bezwang mich. Dagegen stiegen nun mit größter Lebendigkeit die Bilder meines Kindheitsparadieses vor mir auf. Und noch heute scheinen mir etliche davon eigenartig genug, um des Festhaltens wert zu sein.

Man hört jetzt oft die wehmütige Klage, daß es keine Originale mehr gebe. Nun, Grätz hatte vor 65 und mehr Jahren deren eine ganze Menge aufzuweisen.

Aber betrachten wir zuerst das Städtchen selbst, um für jene den richtigen Rahmen zu gewinnen. Grätz zählte damals etwa 3.500 Einwohner. Stellen wir uns in den Mittelpunkt, auf den Marktplatz.

Das Rathaus mitten auf dem Markt / Bild Sammlung A. Kraft [2]

Das Rathaus mitten auf dem Markt / Bild Sammlung A. Kraft

Da steht mitten drauf das Rathaus, ein einfacher, aber stattlicher, zweistöckiger Bau, und ganz in seiner Nähe der Brunnen, über den sich ein Säulentempelchen erhebt, und in dessen Tief das einzigartige Wasser quillt, das dem Grätzer Bier seine gesundheitsfördernde Kraft und seinen Wohlgeschmack verleiht. An drei Seiten des Marktes hatten drei in jedem Sinne gewichtige Brauherrn ihre Häuser, Bibrowicz, Grünberg und Habeck. Der vierte, Bähnisch, wohnte am Neumarkt. An einer Ecke des Marktes stand das vornehmste Hotel der Stadt, „Kutzners Hotel„. Auf der anderen Seite war Jaeger’s Konditorei, in der die Honoratioren lebhaft verkehrten. Ferner war da die Buchhandlung des Herrn Streisand, der den geistigen Bedarf der Stadt mit Geschick und Sachkenntnis zu decken wußte. Er druckte sogar lateinische Doktordissertationen, ohne den Verfassern allzuviel  Mühe durch die Korrekturbogen zu verursachen. Später zog er nach Berlin.

Von den Kirchen ist die damalige alte evangelische Kirche längst durch eine neue, größere ersetzt worden, und die katholische Pfarrkirche, die damals nur eine große Kuppel hatte, ist später noch mit einem Turm versehen worden. Zu meiner Zeit brannte sie einmal ab. Ich erinnere mich lebhaft meines Entsetzens, als unser altes Dienstmädchen mich eines Nachts – noch ganz verschlafen – ans Fenster trug und ich nun den gewaltigen Brand erblickte, der mit mächtigen Flammen und rotglühenden Rauchwolken gen Himmel stieg. Die alte Jagusche sagte beruhigend zu mir: „Es wird bald aufhören, auf der Kuppel steht ja der heilige Florian (der Feuerheilige)!“ Aber, siehe da – auch die kupferne Kuppel erglühte! Sie schmolz, und der Heilige begann sich zu neigen! Plötzlich stürzte er herab – zum maßlosen Schrecken der Zuschauer! Später ist er wieder aufgerichtet und vergoldet worden.

Die katholische Kirche zu Grätz / Bild Sammlung A. Kraft [3]

Die katholische Kirche zu Grätz / Bild Sammlung A. Kraft

Nun gab es – abgesehen von der Synagoge, die inmitten des „Judenviertels“ mit seinen ganz engen Gäßchen stand – noch eine dritte Kirche in Grätz. Sie gehörte zu einem ehemaligen Kloster, in dessen Räumen die katholische und die evangelische „Stadtschule“ untergebracht waren. Das Kloster schien allmählich in die Erde sinken zu wollen, den man stieg zu Eingang einige Stufen hinab. Unregelmäßig verteilte, vielscheibige Fenster blicken aus dem viereckigen Bau hervor, dessen eine Seite durch die Kirche abgeschlossen ist. Vor dem Ganzen liegt ein großer, freier Platz, der Annaplatz, der damals mit Kugelakazien bepflanzt und von einer hölzernen Barriere umschlossen war, auf der früh und spät Kinder entlang balancierten.

Am Eingang zum Platz hält auf hohem Postament ein Heiliger Wache, beschattet von einer mächtigen, alten Linde. Im Laufe vieler, vieler Jahrzehnte hat das stille Heiligenbild auf viele Tausende von Schulkindern herabgeblickt, die sich lachend und schreiend mit erhitzten Gesichtern um sein Postament herum jagten.

Auf der Rückseite des Klosters lagen weite Höfe und Turnplätze und die Gärten der Lehrer, die ihre Wohnungen zum größten Teil ebenfalls innerhalb der alten Mauern hatten. Es ist da viel Raum: überdeckte, halbdunkle Treppen führen auf Korridore mit vielerlei Türen und Nischen, aus denen hier und da Steingesichter etwas unheimlich hervorschauen. Manche Schulklassen lagen auch in Nebengebäuden, und die ABC-Schützen, die zum erstenmal diese Schicksalsstätte betraten, mußten sich durch ein wahres Labyrinth von Gängen hindurchsuchen, ehe sie an ihr Ziel kamen.

Bevor ich jedoch selbst in diese interessante Lage kam, war meine Geistesbildung eine Zeitlang zwei alten Dämchen anvertraut, die eine kleine Klippschule hatten. Fräulein Emilie Krause war ganz lahm und vermochte selbst im Zimmer nur mühsam mit zwei Krücken zu gehen. Ihre Schwester Karoline gab Handarbeitsstunden in der Stadtschule und half auch, uns zu unterrichten. Als ich hinkam, konnte ich schon lesen; aber ich lernte dort stillsitzen, das kleine Einmaleins, Stricken, die zehn Gebote, einige biblische Geschichte und scheiben. Aber dieses Schreiben hatte ich mir später mit vieler Mühe wieder abzugewöhnen! Denn die guten alten Damen hatten nur die seltsamsten Formen für manche Buchstaben (für s, ss, ß, st), sondern auch eine Rechtschreibung, in der das y noch eine große Rollte spielte (bey, frey), von der Machtstellung des h gar nicht zu reden! In meinem ersten Zeugnis der nächsten Schule stand zu lesen: „Schreiben: Schrift zu altväterisch.“ Und einmal sollte sich einen „Aufsatz“ über den Kometen machen, von dem ich nichts wußte, als daß er am Himmel erscheine und einen „Schwanz“ habe, was ich mir doch gar nicht zusammenreimen konnte? Ich hörte dann zufällig, wie mein Vater zu meiner Mutter sagte: „Vielleicht hoffte Fräulein Krause, wir würden bei dem Aufsatz helfen, und so werde sie selbst etwas Näheres über dieses merkwürdige Himmelswesen erfahren.“

Die Klosterkirche und Stadtschule / Bild Sammlung A. Kraft [4]

Die Klosterkirche und Stadtschule / Bild Sammlung A. Kraft

In der Stadtschule hatte ich nur mit drei Lehrern zu tun:  Herr Herberg(Wilhelm David Herberg geb. ca. 1813 in Punitz, verstorben 1900 in Grätz) ein rührend gutes, feingeartetes Männchen, Kantor Otto; dessen Unterricht noch anregender war (besonders seine Physikstunde war mir immer viel zu kurz, so auch die Gesangstunde) – und der Rektor R.!

Der war wohl das größte Original von Grätz! Sein Wesen zeigte eine merkwürdige Zusammensetzung von Eigenschaften, äußerlich wie innerlich. Auf einer sehr stattlichen Gestalt saß ein Kopf, der, wenn er gewaschen und gekämmt war (gewöhnlich Montags), auffallend an Goethe erinnerte. Als Kleidung bevorzugte er entschieden – oftmals selbst für die Klasse – seinen langen Schlafrock und einen dicken, einst roten Schal, von dem er sich auch im Sommer nur selten trennt. Sein Hemd stand auf der Brust offen. An den Füßen verhüllten ihm sehr oft die herabgeruschten, rötlichen Strümpfe die niedergetretenen, flachen Schuhe, und darüber baumelte meist ein Bändchen, da nur von der Unterhose herrühren konnte. So angetan sah man ihn oft an einem zeitigen Frühlings- oder Sommermorgen in den dem Kloster nächsten Straßen umherwandeln

Die Schule hatte er auf einen verhältnismäßig hohen Standpunkt gebracht. Für einzelne begabte, aber unbemittelte Schüler bemühte er sich öfters erfolgreich, ihnen auch für die Zukunft den Weg zu ebnen. Allerdings wurde er dann auch nie müde, solchen seine Bemühungen immer wieder in Gegenwart anderer vorzuhalten. Alle Schüler zitterten vor ihn, und zwar fürchteten sie am meisten seinen beißenden, unbarmherzigen Hohn. Auch seine Unterrichtsweise hatte ihre Seltsamkeiten. von Gedichten hieß er uns u. a. lernen „König Wilhelm saß ganz heiter …“ und „Abenteuer des Pfarrers Schmolke und des Kantor Bakel.“ Die mußten wir zuweilen gemeinsam sehr laut hersagen, während wir mit Fäusten und Füßen den Takt dazu schlugen. Da kam denn der Lehrer aus der Klasse unter uns entsetzt herauf, weil er glaubte, daß wir allein seien und so tobten! Um uns den Schrecken des Krieges recht deutlich zu machen, wandt sich R. einen Verwundeten nachahmend auf den Fußboden und stöhnte und brüllte fürchterlich. Ebenso brüllte er als ein Bär, der tanzen lernen soll und zu diesem Zweck auf einer immer heißer werdenden Eisenplatte die Beine, schmerzgepeinigt, immer rascher hebt. Sein Steckenpferd war Erdkunde. Da er, wenn er wollte, ausgezeichnet unterrichtete und dann in einer Stunde soviel  erreichte wie andere in der dreifachen Zeit, so meinte er, daß seine Gegenwart nicht in allen Stunden nötig sei. Er wies dann zwei Kinder an, sich mit Zeigestöcken bewaffnet an die Landkarte zu stellen und jedem Kinde 5-10 Fragen vorzulegen. Ein Drittes notierte die richtige oder falsche Antwort, und ein Viertes führte Buch über die Untaten der übrigen, die nachher bestraft wurden. Nach dem Ergebnis dieses Verfahrens kriegte man dann neue Plätze. Natürlich suchten die Fragenden das Resultat dadurch zu beeinflussen, daß sie ihren Günstlingen leichte Fragen vorlegten, während weniger Begünstigten schwierige Antworten abverlangt wurden. So scheiterten viele an der Einwohnerzahl minderbedeutender Städte und fanden sich dann betrübt auf der letzten Bank wieder.

Grätz, die Breite Straße / Ausschnitt Ansichtskarte [5]

Grätz, die Breite Straße / Ausschnitt Ansichtskarte

Im Sommer, wenn allerlei Gartenfrüchte reiften, die viel sündhaftes Volk zum Diebstahl verlockten, errichtete Rektor R. in seinem Garten eine niedrige Strohhütte und pflegte in dieser zu schlafen. Die Spuren dieses Nachtasyls bemerkte man dann am nächsten Tage an Kleidern und Haaren. Das Gerücht erzählte von ihm, daß er mondsüchtig sei, und Phantasie begabte Leute wollten ihn mehr als einmal in mondhellen Nächten lustwandelnd auf dem Kirchendach gesehen haben. Als im Jahre 1872 zwei Damen eine „Höhere Töchterschule“ in Grätz gründeten, äußerte sich Rektor R. höchst abfällig und geringschätzig über dieses Unternehmen. Er sagte, in „Höheren Töchterschulen“ würden nur „Zierpuppen“ herangezogen, und gelernt wurde da nichts Ordentliches. So schämte ich mich dann fürchterlich, ihm auf Befragen bekennen zu müssen, daß auch ich dieser verderblichen Anstalt überantwortet werden sollte. Ach, die beiden wahrhaft feinen und äußerst gewissenhaften Fräulein von Chmielewski – im Kloster erzogen, welt- und lebensfremd – samt ihrer alten Mutter hatten in Grätz ein kümmerliches Los! Es gab dort eben gar zu wenig „höhere Töchter“!  Nach zwei Jahren mußten sie die Schule wieder aufgeben und fortziehen. Zu derselben Zeit ward auch mein Vater in eine andere Stadt versetzt, und ich mußte meinem Kindheitsparadies Valet sagen, – dem netten, kleinen Mietshaus und dem schönen Garten mit dem alten Nußbaum, den Fliederhecken, den Obstbäumen und Beerensträuchern.

Eine Reihe von Jahren später wurde dann in Grätz eine städtische Höhere Mädchenschule gegründet. Ebenso entstanden ein Gymnasium und noch andere öffentliche Bauten, die vom zeitgemäßen Fortschritt der Stadt zeugen. Vor allem erhielt sie Bahnanschluß nach Opalenica hin.

Damals hatte Grätz noch keine Eisenbahn, und wer von Amts wegen viele Fahrten nach zahlreichen, ziemlich entlegenen Orten der Umgegend zu machen hatte, wie mein Vater, der wußte manches ergötzliche und manches ernste Abenteuer von solchen Wagenfahrten zu erzählen!

Da waren einmal in der Finsternis die Pferde plötzlich in einen frischgezogenen Quergraben gefallen, und der schreckhafte erwachende Kutscher, der nun keine Pferde sah, jammerte: „Die Färde sein weg!! Die hat der Biese (Böse) gehult! Die muß der Biese gehult ho’n!!“ Und es hatte Stunden gedauert, bis man aus dem nächsten Dorfe Leute zur Hilfe herbeigeholt hatte.

Einmal drang die Deichsel eines entgegenkommenden Wagens einem Pferde in die Brust und tötete es, usw. In einem großen Dorfe erschien von den 54 zum Termin vorgeladenen Bauern nur ein Drittel. Auf die Frage nach der Ursache des Fernbleibens hieß es: „Sie sitzen im Gefängnis oder Zuchthaus, – „wegen Meineid“, „wegen Diebstahl“, „wegen Totschlag“, „wegen Einbruch“, die meisten „wegen Brandstiftung“. Eine nette Gesellschaft, wie?“

Grätz, Breite Strasse mit Blick auf die "neue" ehem. evangelische Kirche / Ausschnitt Ansichtskarte [6]

Grätz, Breite Strasse mit Blick auf die „neue“ ehem. evangelische Kirche / Ausschnitt Ansichtskarte

In derselben Gegend, wo jetzt der Bahnhof steht, lag oder liegt der Topelsche Garten, ein öffentlicher Gesellschaftsgarten, der auch der Schauplatz des alljährlichen Schützenfestes war, da Ereignis des Jahreslaufs. Es begann am 2. Pfingsttag, und schon tagelang vorher zog durch die Breite Straße ein süßer, würziger Duft der „Pfefferrollen“, die in der Raschko’schen Kuchenbäckerei gebacken wurden (immer nur zu Pfingsten!). Mir scheint noch heute, daß sie besser schmeckten als sogar die berühmten Weese-Erzeugnisse! In welcher Spannung lebte man schon vorher! Wie würde das Wetter sein?! Es war doch nicht denkbar, daß man zum Schützenfest anders erschien als in weißem Kleide und versehen mit möglichst vielen Silbergroschen für Karussel, Würfelbuden u. dergl.! Wer würde diesmal König werden? Und, o Wonne, wenn man den Glücklichen, Stolzgeschwellten dann in seinem blendend ganzvollen Schmucke bei schmetternder Musik heimgeleiten half!

Grätz hatte damals eine Bürgerschaft, die sichtlich von den Musen geliebt und begünstigt wurde und ihnen dafür begeistert huldigte.  Das zeigte sich jahraus, jahrein in der „Bürger-Ressource“, wo besonders der heiteren Thalia, aber auch der erhabenen Melpomene (z. B. in „Kabale und Liebe“) Leistungen dargebracht wurden, auf die die Olympischen Schwestern wahrlich anerkennend herablächeln konnten. Wenn die Nachwelt auch dem Mimen Kränze flöchte, dann müßten dem großen, idealgesinnten Bäckermeister Frost, dem „Theaterdirektor“ und seiner zierlichen, lebhaften und intelligenten Frau entschieden welche zugebilligt werden. Ebenso der imposanten tragischen Heldin, Frl. K., dem ersten Liebhaber und den beiden Komikern. Die rührige Gesellschaft bestand zum größten Teil aus Zugehörigen der mittleren Beamtenschaft; wurde aber bei ihren Aufführungen, zu denen auch Singspiele gehörten, auch von der „Hautvollee“ ganz gern besucht.

Ein wertvoller Zubehör für die Stadt war das „Schloß Grätz„, zu dem das außerhalb der Stadt liegende Gut Piaski gehörte. Das Schloß ist von einem weiten, wunderschönen Park umgeben, der damals dem Publikum jederzeit offen stand und das beliebteste Ziel zahlreicher Spaziergänger war. Herrliche alte Bäume und malerische Baumgruppen standen da auf weiten Rasenflächen, vor dem Schloß eine mächtig breite Linde. Hier und da ragte eine graue Steinfigur aus den Büschen hervor und schattige Sitzplätze luden zum Ruhen ein. Besonders schön war eine lange Buchenallee, deren Äste, von beiden Seiten her einander berührend, einen hochgewölbten, grünen Bogengang bildeten. Eins der poesievollen Bilder aus Rudolph Schäfers „Allerlei Gärten“ erinnert mich an jene Buchenallee. An den Park grenzte ein großer Teich, an dessen Rande man Schnecken und Muscheln von so verschiedenen Formen fand, wie sonst nirgends in der ganzen Gegend. Im Winter tummelten sich auf diesem Teiche die Schlittschuhläufer der ganzen Stadt.

Grätz - Der Alte Markt / Bild Sammlung A. Kraft [7]

Grätz – Der Alte Markt / Bild Sammlung A. Kraft

Im übrigen war die Umgebung von Grätz sehr arm an Naturschönheit. Kein See! Kein schöner Wald! Nur auffallend viele Hopfenfelder sah man und viele Windmühlen. Die „Herrschaft Grätz“ war, nachdem sie durch mancherlei Hände gegangen war, von einem reichen Handelsherrn aus Hamburg erworben worden.  Er war der Stammvater Familien Beyme und von Beyme, die nun schon in der vierten Generation in ausgedehnten Landgütern und Forsten kulturfördernd wirken.

Im Grätzer Rathaus war auch die Wirkungsstätte des Kreisgerichts, das damals außer dem Direktor dreizehn Richter zählte. Unter ihnen war ein Rat Hoffmann, der durch seinen Witz, seine Urwüchsigkeit und Schlagfertigkeit allgemein bekannt und beliebt war. Einst stand vor seinem Richterstuhl ein altes Weibchen, das ein Vergehen, gestohlen zu haben, nicht eingestehen wollte. Da erschien zufällig, auf dem äußeren Mauersims dahergekommen, ein schwarzer Kater am Fenster, und sofort hörte man auch Rat Hoffmann’s drohend erhobene Stimme: „Weib, du lügst dich in die Hölle! Sieh, dort da wartet schon der Teufel auf deine Seele!“ Als die Frau nun den schwarzen Kater erblickte, fiel sie schreckensbleich auf die Knie und gestand alles.

Ein Original war auch ein Herr von Vintinghoff, „Onkel Tom“ genannt. Er war nicht nur ein ausgezeichneter Blumenzüchter, den man früh und spät in einem blaugestreiften Anzug in seinem Garten arbeiten sah, sondern er besaß auch die gewiß seltene Fähigkeit Kreuzspinnen zu essen! Wenn Rat Hoffmann ihm in einer kleinen Türe eins oder zwei dieser interessanten Arachniden oder Gliederfüßer ins Stammlokal – bei Vater Klose – mitbrachte und ihm zwei „Dumme“ (Schnäpse) versprach, wenn er sie aufäße, dann klemmte Onkel Tom sie zwischen zwei Butterbrote und verspeiste sie mit diesen. Er versicherte, sie hätten einen mandelähnlichen Geschmack und bekämen ihm sehr gut.

Es lebten damals in Grätz noch eine Reihe Menschen, die mit großer Lebendigkeit von den Vorgängen des Jahres 1848, wie sie sich auch in und um Grätz abgespielt hatten, zu erzählen wußten. Zu ihnen gehörte auch der alte, sehr tüchtige Arzt Dr. Mosse, Vater des bekannten Zeitungsverlegers Rudolph Mosse. Er hatte im Kampfe gegen die Sensenmänner einige Wunden davongetragen, deren Spuren noch wahrnehmbar waren. Sein Schwiegersohn, der ebenfalls höchst schätzenswerte Dr. Litthauer, zog 1866 in den Krieg. Ich weiß noch, wie ich beim Abschied von ihm weinte. Aber „es behielt ihn nicht“, er kam zum Glück wieder.

Grätz - Alter Markt, Blick aus einem alten Laubengang / Bild Sammlung A. Kraft [8]

Grätz – Alter Markt, Blick aus einem alten Laubengang / Bild Sammlung A. Kraft

Der Krieg von 70/71 übte natürlich eine mächtige Wirkung auf alle Gemüter aus. Wir Schulkinder zupften ganze Berge von „Charpie“, die weichen Fäden alter Leinwand, die zur Wundbehandlung dienten. Denn die heutigen Mittel zu diesem Zweck hatte man damals noch nicht. Es entstanden Vereine, Lotterien und andere Veranstaltungen, alle mit dem Ziele, Geld- und andere Hilfsmittel für die tapferen Soldaten zu schaffen. Siegesnachrichten riefen sich auf der Straße Menschen zu, die einander gar nicht kannten. Und bei jeder neuen frohen Kunde wurde jedes Haus illuminiert und dann wogte die Einwohnerschaft, groß und klein, alt und junge, vornehm und gering, am Abend durch die Straßen und sang begeistert Vaterlandslieder. Ich sehe und höre noch den alten, würdigen, aristokratischen Gerichtsrat von Dresler mit seiner Gattin am Arm daherkommen, beide singend, zwischen all den anderen. Frau v. D. gründete damals in Grätz den Vaterländischen Frauenverein, in dem sie selbst allezeit das Meiste und Beste leistete, mit Hingabe ihrer ganzen Seele, ohne jemals „das Ihre zu suchen“. Diese edle, äußerst bescheidene Frau war für Grätz geradezu die bedeutsamste Persönlichkeit und für Unzählige im Lauf der Jahrzehnte ein wahrer Segen, als tatkräftige Helferin, Trösterin und vor allem durch ihr Beispiel.

Zeiten und Menschen haben sich geändert. Aber gewiß leben in Grätz noch viele Nachkommen der damaligen Bewohner, die durch ihre Eltern von der Vergangenheit erzählen hörten. Oder es leben dort noch Alters- und Schulgenossen von mir. Ihnen allen möchte ich einen warmen Gruß zurufen und ich wünsche ihnen, daß auch die jetzige Zeit ihnen hold sei !

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Quellen soweit nicht direkt im Text oder in der Bildbeschreibung genannt: Staatsarchiv Poznan (http://szukajwarchiwach.pl/; Personenstandsunterlagen  Staatsarchivs Poznan (http://szukajwarchiwach.pl/)