Zustand des Landes – Südpreußen 1793 / Provinz Posen

Sonder-Veröffentlichungen der Historischen Gesellschaft für die Provinz Posen – 1895

Am 25. März 1893 war ein Jahrhundert verflossen, seit der Haupttheil der heutigen Provinz Posen dem Königreich Preußen einverleibt wurde. Die Historische Gesellschaft für die Provinz Posen hielt es angesichts dessen für ihre Aufgabe, der Erinnerung an die politischen und kulturellen Segnungen, die diese Wendung der Provinz gebracht hat, in würdiger Weise bleibenden Ausdruck zu verleihen. In diesem Sinne hat sie die Veröffentlichung der Originalurkunden, die den Zustand des Landes zur Zeit der Besitznahme und die ersten Schritte zur Neuordnung betreffen, in Angriff genommen

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Das Land, welches General von Moellendorff für seinen König in Besitz genommen hatte, deckt sich in seinen Grenzen im Großen und Ganzen mit dem alten Großpolen und umfasste die heutige Provinz Posen, dazu die Landschaften Kalisch, Sieradien und Wielun, Rawa, Lentschitz, Brzesc in Cujavien, Dobrzyn, Plock und Zakroczyn, welche in den Wiener Traktaten an Rußland gekommen sind.

Eine Aufnahme gab es jedoch nicht, und so die Angaben über die Größe der Erwerbung, Zahl der Städte, Dörfer, Einwohner usw. recht verschieden.

Nach der statistischen Tabelle, welche Graf Moszynski, Groß-Sekretär von Lithauen, dem polnischen Reichstage vom 19. April 1790 vorlegte, umfasste Groß-Polen 1.061 Quadratmeilen und enthielt 262 Städte sowie 8.274 Dörfer mit zusammen 195.016 Feuerstellen.

Die Zahl der Einwohner wurde 1.136.389 geschätzt, während von Voß sie zu 1.078.518, mithin 1.113 auf die Quadratmeiler, annahm.

Und dieses große Land brachte Alles in Allem für den Staat nur ein jährliches Einkommen von 787.188 Thl. 19 g. Gr. 3 Pf. auf. Wie war dieser beispiellos geringe Ertrag zu erklären ?

Von der Natur ist Großpolen durchaus nicht vernachlässigt. Holsche, der treffliche Geograph und Statistiker, dem wir die besten gleichzeitigen Nachrichten über dasselbe verdanken, nennt es sogar „ein gesegnetes Land, welches, im Ganzen genommen, in Ansehung der Fruchtbarkeit Schlesien wenig nachgibt, einer höheren Kultur fähig ist und den Grad der Bevölkerung Schlesiens bald erreichen kann, wenn die Brücher ausgetrocknet, in Wiesen und Weiden verwandelt, die wüsten Gegenden urbar gemacht werden und der Viehstand vermehrt, ingleichen die Industrie belebt wird.“

Und ferner sagt er: „Die Produkte dieser Provinz bestehen in Weizen, Roggen, Gerste, Hafer, Erbsen, Linsen, Wicken, Hirse, Buchweizen, allen Arten von Gartengewächsen, Obst, Vieh, Wolle, Flachs, Holz und allem was in diesem Klima, das dem sächsischen und schlesischen beinahe gleichkommt, gezogen werden kann.“

Die Kultur des Landes aber lag im Argen. Es ist kaum glaublich, wie sehr dieselbe vernachlässigt war.

Aus den amtlichen Erhebungen der preußischen Kommissare ergab sich, dass selbst in Großpolen, welches nach allen Berichten der beste Theil Polens war, so dass es dem übrigen Lande ein halbes Jahrhundert vorauseilte, der Getreide Ertrag ein außerordentlich geringer war. Das Meseritzer Winterfeld liefert z. B. im Jahr 1793 zu 1/20 das fünfte Korn, zu 19/20 aber nur das zweite, und an der Ostgrenze des Landes, in Krotoschin, ergab die eine Hälfte des Roggens das vierte Korn, die andere das 3 1/2, Hafer das Dritte, Buchweizen gar nur das zweite Korn. Diese Beispiele wären mit Leichtigkeit ins Unendliche zu vermehren.

Ganz besonders schlimm lagen die Verhältnisse im späteren Petrikauer Departement. Man lese nur den Anfang des Berichtes der Petrikauer Kammer aus dem Juni des Jahres 1793: „Die wenige Sorgfalt, die man ehedem auf das Wohl und die Aufnahme der hiesigen Provinz verwendet hat, der Mangel an Industrie, weil sie ganz ohne Aufmunterung blieb, verbunden mit den Kriegen, womit sie von Zeit zu Zeit heimgesucht wurde, verursachten, dass sie in einen Zustand von Rohheit und Wildnis zurücksank, aus welchem sie nur durch ununterbrochene Thätigkeit und beträchtliche Unterstützung gerissen werden kann.“ Oder „Städte und plattes Land befinden sich in dieser traurigen Verfassung, und ihre Bewohner, gewöhnt an Armuth, genügsam aus Liebe zur Unthätigkeit und unbekannt mit den Annehmlichkeiten einer nur irgend kultivierten Lebensart, haben nie getrachtet, auch zum Theil nie dahin trachten dürfen, sich ein besseres Loos zu erringen. Fabriqu7en und Manufakturen mangeln fast ganz, und nur selten sieht man einen Flecken Landes in zweckmäßiger Kultur.“ „Bisher war es schwer zu bestimmen, wer am meisten von der Kultur entfernt war, ob der Mensch oder das Land, so ihm erzeugte.“

Und weiterhin: „Der Landmann wird wenig von seinen Erzeugnissen in einer Stadt absetzen können, deren Bewohner sich in dem Zustande befinden, worin sie in fast allen Südpreußischen Städten gegenwärtig sind, dahingegen diese an den ersteren ebenso schlechte Abnehmer der Produkte ihrer Industrie haben werden, weil die wenigsten mehr besitzen, als sie brauchen, um ihr Leben von einem Tage zum andern kümmerlich durchfristen zu können. Die Aufnahme des platten Landes öffnet der Thätigkeit, wo nicht ein größeres, wenigstens ein ebenso großes Feld, als die der Städte, und es bedarf nicht geringerer Unterstützungen und Aufmunterungen aus allerhöchster Gnade, um zur Erreichung diese Zwecks den Grund zu legen. Ackerbau ist die Grundveste des ländlichen Wohlstandes, und es ist kaum zu viel gesagt – des ganzen Staats. Wie weit Südpreußen hierin noch zurück ist, zeigt die Menge unbebauter Felder und ihre größtentheils schlechte Kultur, aber es fehlt bisher an Aufmunterung und gutem Beispiel.“

Können wir uns da wundern, wenn von Voß in seinem Bericht an den König sagt, dass der größere Theil dieser Provinz einer Wüstenei ähnlich sei? Das waren in der That die Eindrücke, welche das unbefangene Auge in sich aufnahm, die auch nur durch wenige erfreulichere Beobachtungen gemildert wurden.

Und in den Städten sah es nicht besser aus.

Seit dem Niedergange des polnischen Staates im 17. und 18. Jahrhundert hatten auch sie mehr und mehr an Reichthum wie an Ansehen verloren, ihre Privilegien wurden für nichts geachtet oder durch Anlegung neuer Städte und Städtchen seitens der Grundherren werthlos gemacht.

Damals entstanden jene kleinen Orte mit städtischen Gerechtsamen, in denen die stolz sich Bürger nennenden Bewohner schließlich froh waren, wenn sie, hauptsächlich durch Ackerbau, soviel erwarben, dass sie mit den Ihrigen nicht buchstäblich Noth litten.

Wir lernen aus den Aufzeichnungen der preußischen Kommissare Städte kennen, wie Mielzyn mit 37 Feuerstellen, Mietschisko mit 40 Häusern, an wüsten Baustellen waren in Schwetzkau 20, in Mielzyn 10, in Miloslaw 40, in Obersitzko 10, in Rakwitz 17 usw. vorhanden. Jaratschweo hatte 72 Häuser gehabt, davon waren 41 durch Brand verloren, so dass im Jahre 1793 nur 31, und zwar 20 mit Schindeln, 11 mit Stroh gedeckt, bewohnbar waren. In Kempen waren 264 Häuser und 56 wüste Baustellen. In Grabow gab es kein einziges massives Haus, dagegen 30 wüste Baustellen; von den vorhandenen Häusern waren 41 mit Schindel, 65 mit Stroh gedeckt. Pleschen hatte bei 226 Feuerstellen gleichfalls kein massives Haus, alle waren von Holz mit Schindeln, 20 mit Strohdach. Und selbst ein so bedeutender Ort wie Fraustadt konnte unter seinen 807 Häusern nur 32 mit Ziegeln aufweisen, 14 Wohnhäuser aber standen ganz leer, und 62 wüste Baustellen zeugten von dem Rückgange der Stadt.

„Unter 245 hiesigen Städten verdienen kaum 10 diesen Namen.“ sagt von Voß in seinem Reiseberichte vom 31. Mai 1793, „die übrigen sind Dörfern gleich, und selbst die, so für Städte gehalten werden können, sind, die Stadt Posen allein ausgenommen, so schlecht erbaut, dass in jedem Jahre mehrere Städte ganz abbrennen.“ Kalisch und Lissa lagen bei der Übernahme der Provinz in Asche, Kopnitz brannte noch im Jahre 1793 ab. Das Fehlen einer ordentlichen Baupolizei und der Mangel jeglicher Vorbeugungsmaßregeln leisteten beim gefräßigen Elemente den besten Vorschub.

Historische Gesellschaft für die Provinz Posen

Ein rascher Wiederaufbau aber war mit sehr großen Schwierigkeiten verknüpft. Der Mangel an Baumaterialien, die einem leichten Transporte sich gegenüberstellenden Hindernisse, schon allein wegen der wenigen vorhandenen Pferde, zumal das gänzliche Fehlen von geschickten Handwerkern machten dergleichen Arbeiten ungemein theuer. Dass die Städte aus eigener Kraft sich emporraffen würden, daran war gar nicht zu denken. Denn die Magistrate, unerfahren in den Geschäften und ohne feststehende Besoldung, kümmerten sich um das Wohl ihrer Stadt sehr wenig. An eine ordentliche Verwaltung der Kämmereien wurde nicht gedacht, und gerade hierin lag nach Ansicht der Petrikauer Kammer größtentheils die Ursache ihre Verfalls, da die meisten städtischen Einkünfte entweder ruhten oder neu geschaffen werden mußten.

(Der Bürgermeister von Posen, Präsident von Kotecki, in seinem bürgerlichen Leben Bierbrauer, hatte ein Gehalt von 1.500 polnischen Gulden, der Vizepräsident 1.200 fl.; in Rostarzewo erhielt der Bürgermeister jährlich 5 Thl., dazu an Emolumenten etwas 12 g. Gr.; der Bürgermeister von Pleschen hatte für seine Bemühungen jedes Jahr 3 ½ Gebräu Bier frei, fern die Einnahmen von zwei Jahrmärkten zu 6, auch zu 7 Thl., Nutzung einer Wiese, geschätzt auf 3 Thl. Und von jedem Jahrmarkt 1 Thl. Ellengeld; der Adelnauer Bürgermeister stand sich auf 100 fl. – Aus den Städte-Spezialkaten im Staats-Archiv Posen)

Um eine gründliche Besserung all dieser Übelstände zu erzielen, bedurfte es sehr großer Mittel und zielbewußter Maßnahmen. Beides aber fehlt in den letzten Zeiten der polnischen Herrschaft.

Die königlichen Städte entbehrten jedes Schutzes gegen den stets weiter um sich greifenden Adel, die Mediat-Städte wurden von ihren Grundherren nur so hoch geschätzt, als die eine Einnahme-Quelle bei deren ständigen Geldnoth bildeten. Industrie war, abgesehen von der stellenweise blühenden Tuchmacherei, so gut wie gar nicht vorhanden. Schlesien versorgte das Land theilweise mit eigenen Fabrikaten, theils mit auswärtigen Produkten, die auf der Oder oder durch die Mitte Schlesiens einen bequemen Zufuhrweg hatten.

In den Besitz des Landes theilten sich der Adel und die Geistlichkeit. Dem Namen nach freilich gehörten dem Staate große Domänen, die Starosteien.

Aber wenn in früheren Zeiten dem Könige noch ein gewisses Recht zugestanden hatte, durch ihre Verleihung besondere Verdienst zu belohnen oder aber in schwierigen Zeiten ihre Einkünfte zum Besten des Staates zu verwenden, so war ihm seit dem Jahr 1662 die freie Verfügung überhaupt genommen.

Der Adel hatte eine Bestimmung durchzusetzen gewußt, nach welcher eine frei gewordene Starostei innerhalb vier Monaten, besonders auf Empfehlung des Großfeldherrn, wieder auf Lebenszeit verliehen werden musste. Mit dem Tode des Inhabers fiel sie in den meisten Fällen einer anderen Familie zu, die derzeit gerade am höchsten in Gunst stand oder über die meisten Machtmittel verfügte, um den König ihren Wünschen gefügig zu machen.

Ein besonders großes Interesse lag daher für den jeweiligen Besitzer gar nicht vor, für Hebung und erst in der Zukunft Frucht tragende Verbesserung der ihm anvertrauten  Domäne zu sorgen, da der Lohn seiner Arbeit und Mühe voraussichtlich Fremden zu Gute kam.

Das ganze Streben ging dahin, möglichst viel Ertrag aus den Gütern herauszuschlagen. Für die Zukunft mochte der Nachfolger sorgen.

Begreiflicherweise wurden die Werthe zuerst in Anspruch genommen, welche auf die leichteste Weise zu Gelde gemacht werden konnten, und das waren die anscheinend schier unerschöpflichen Wälder, die in früheren Zeiten weithin das Land bedeckten.

Solange die Nachbarn selbst Holz genug hatten, waren diese Wälder natürlich werthlos gewesen; je mehr Grund und Boden dort aber unter den Pflug genommen wurde, und je mehr der Wald vor der andrängenden Kultur, wie vor der rasch sich entwickelnden Industrie zurückwich, desto größer war der  Anreiz für die Starosten, ihren Holzreichthum zu verwerthen. Leider gingen sie hierbei ohne jegliche Rücksicht vor, und schier endlos sind die Klagen über die Raubwirtschaft, die Waldverwüstung, die in Polen um sich gegriffen hatte. So war der Stand der Forsten in den Starosteien, in denen ohne besonderen Consens kein Bauholz verkauft werden durfte. Man kann sich daraus ein Bild von der Behandlung machen, denen die Forsten auf den Erbgütern des Adels ausgesetzt waren.

Nicht als ob es gerade an Holz gemangelt hätte, – fast zu jeder größeren Herrschaft gehörte auch Waldung – aber die rationelle Wirthschaft hatte gefehlt. Kaum ein Wald war anzutreffen, der nicht Spuren von Feuer getragen hätte. Ganz Strecken waren abgebrannt, um die derart gewonnene Pottasche nach Danzig auszuführen, anderswo waren die schönsten Bäume geringelt, um sie zum Absterben zu bringen und Ackerland für Ansiedler frei zu bekommen. Wenn auf diese Weise neue Land dem Ackerbau erschlossen wurde, so war ein solches Vorgehen gewiß anerkennenswerth, aber nur zu oft sagte das Land den Ansiedlern nicht zu, oder sie zogen wegen Mißhelligkeiten mit den Grundherren weiter, und der verwüstete und abgestorbene Wald blieb zurück, dessen Wegräumung dem Besitzer keinen Vortheil versprach, da er ihn wegen der schlechten Land- und Wasserstraßen nicht verwerthen konnte.

Die Ströme waren überall verflacht und versandet, sie hatten zum Theil ihr altes Bett verlassend und waren dadurch zu aller Schiffahrt und Flößerei untauglich geworden. Wo noch genügend Wasser in ihnen vorhanden, hinderten zum Zweck der Fischerei oder des Mühlenbetriebs quer durch den Fluß gebaute Wehre jeglichen größeren Verkehr.

Die Landstraßen befanden sich in derart verwahrlosten Zustande, dass sie kaum zu passieren waren. Zu- und Abfuhr ließ sich im Winter meist nur mit Schlitten ermöglichen. Zölle und Abgaben wurden allerorten von den Berechtigten beansprucht, dass ihnen dafür aber auch die Verpflichtung oblegen hätte, die Wege fahrbar zu halten, kam ihnen nicht in den Sinn. Ein Beispiel möge hier für viele andere sprechen. Der zuständige Kriegs- und Domänenrath berichtet im Jahr 1794 nach den amtlichen Angaben des Magistrats zu Schwersenz (Staats-Archiv Posen, Spezial-Akten von Schwersenz): „Schon seit undenklichen Jahren nahm die Herrschaft immer das Wegegeld, wenn die Wege gut waren, und behielt diese Einnahme so lange fort, bis gedachte Wege in die allerschlechteste Verfassung geriethen; dann nur überließ sie diese Einnahme der Stadt, die nun ungesäumt bessern mußte. Waren die Wege erst im Stande, dann zog sie diese Einnahme wieder an sich und kontinuierte, bis sie wieder ganz impassable geworden.“

Klagen gegen den allmächtigen Adel bei den nur mit Adelichen gesetzten Gerichten nützten herzlich wenig. Die Stadt Rogasen beschwert sich im Jahr 1793, vor etwa 50 Jahren sie der Mokrzetzer Wald ihr durch den Starosten Zytomierski ganz widerrechtlich genommen und zu den Welnaschen Gütern eingegrenzt. „Die Stadt habe zwar dagegen protestiert, jedoch da bekanntlich damals der Bürgerstand gegen den Adel nichts auszurichten im Stande gewesen, so wäre auch auf den Widerspruch der Stadt bei den polnischen Gerichtshöfen keine Rücksicht genommen worden.“ (Eingabe des Magistrats vom 16. Dez. 1793, Staats-Archiv Posen, Spezial Akten der Stadt Rogasen)

Selbst von den Lasten, welche dem Adel durch Reichstagsbeschluß auferlegt wurden, suchte er sich dadurch frei zu machen, dass er sie auf seine Unterthanen abwälzte. Der Adel selbst schied sich in zwei große Klassen, die dem dem Wortlaute der Verfassung nach völlig gleich waren. In Wirklichkeit aber that sich zwischen beiden eine unermeßliche Kluft auf. Die großen Familien, die Magnaten, beherrschten die Geschicke des Landes durch ihren auf ungeheurem Grundbesitz beruhenden Einfluß, bei ihnen lagen alle wichtigen Entscheidungen. „Die Freiheit, Einfluß und Macht gehörten den Herren allein. Der kleine und ärmere Adel diente, kroch und erniedrigte sich“, sagt Kajetan Kozmian. Nur zu natürlich, denn in allen seinen Lebensbedingungen war er von den Magnaten abhängig. Sie gaben ihm Unterkunft auf ihren großen Gütern als Verwalter, Pächter, in ihren Häusern als Offizianten, oder nahmen sie unter ihre Haustruppen auf. Unter ihrem Schutze gelangten sie in staatliche Stellungen in der Verwaltung, beim Heere oder bei der Justiz, deren Mitglieder eines Fachstudiums nicht bedurften. Dafür standen sie ihren Herren für Alles zu Gebote, und die Masse, so wenig der Einzelne zu bedeuten hatte, wirkte durch sich selbst auf den Reichstagen, die ehrgeizigen Absichten der Magnaten selbst gegen das allgemeine Staats-Interesse durchzusetzen.

Die Erziehung der adelichen Jugend, fast durchweg in den Händen der Jesuiten, war ganz dazu angethan, sie in unterwürfigem Gehorsam zu erhalten. Gegenstand des Unterrichts waren fast nur Religion und Latein, nach einer rein äußerlichen Methode vorgetragen. So wuchsen die Elemente heran, welche auf den Reichstagen durch ihre Stimme über das Wohl und Wehe des Vaterlandes zu entscheiden hatten. Welch einen Ausblick eröffnet nicht die Schilderung Szujskis: „Die ganze Fülle von üppiger Kraft, das aufbrausende, stürmische Element, welches in der Natur dieses Adels lag und früher im Kriege und auf den Reichstagen Gelegenheit gehabt hatte, sich auszuzeichnen, wurde jetzt in jubelnden Lustbarkeiten und Saufereien daheim oder auf den Land- und Gerichtstagen vergeudet. Die größten Säufer und Raufbolde wurden berühmt, wie früher Helden des Krieges oder Redner des Reichstags. Man pries riesenhafte Humpen und erzählte sich weit und breit von den Helden, welche sie in einem Zuge austranken. Das ganze Jahr verfloß in dem seligen Genuß unaufhörlich auf einander folgender Festlichkeiten, zu welchen der Adel auf die verschiedensten Veranlassungen, auch bei den häufigen kirchlichen Festen, zusammenkam, wo dann, nach gewissenhafter Theilnahme am Gottesdienst, der heiligen Messe reiche Gastmähler und der Vesperandacht rauschende Trinkgelage und Tänze folgten.“

Recht bezeichnend für die maßlose Überhebung des Adels sind die Forderungen, welche man im April des Jahres 1793 vor den König zu bringen gedachte. Der Kammerherr von Potworowski meint, sie seien meist der Art, dass sie dem Könige kaum vorgelegt werden könnten. Und in der That hätten sie den Siegern nach einem glücklichen Kampfe eher geziemt, als den Angehörigen einer neuen Provinz des preußischen Staates. Man verlangte unter anderem die Beibehaltung aller Vorrechte des Adels, Fixierung der einmal bestimmten Abgaben für ewige Zeiten, eigene Wahl der Landräthe, Besetzung aller öffentlichen Ämter wenigstens zur Hälfte durch Eingeborene, die auf den Landtagen zu wählen seien. Es gelang aber doch den besonneneren Köpfen, das Übergewicht über diese Extremen zu erlangen, und die von der polnischen Deputation im Mai des Jahres dem Könige zu Frankfurt am Main geäußerten Wünsche bewegen sich in einer bedeutend gemäßigteren Richtung.

Sicherlich das traurigste Loos von allen Ständen in Polen war dem Bauern zu Theil geworden. Eigenes Besitzthum hatte er überhaupt nicht, stets mußte er gegenwärtig sin, dass er seiner heimathlichen Scholle beraubt wurde. Kam es doch vor, dass der Grundherr einem fleißigen Arbeiter sein Gut nahm, welches ordentlichen Ertrage brachte, und es an einen schlechten Wirth vergab, während der frühere Besitzer noch froh sein konnte, wenn er irgend ein durch liederliche Wirtschaft heruntergekommenes Gut wieder in die Höhe bringen durfte. Wer sollte da noch den Muth und den Drang haben, durch seiner Hände Mühe dem Boden höhere Erträge abzuringen? Welcher Bauer hatte ein Interesse daran, sein Gut in gehörigem Stand zu halten, für seine Verbesserung zu sorgen, wenn der Grundherr ihn mit einem Worte zum Knechte, seinen Knecht zum Bauern machen konnte?  wenn er ihn verkaufen, vertauschen, verschenken durfte? Zumal auf den Gütern des Adels waren die Bauern ganz rechtlos. Nicht nur, dass die Dienste sowohl wie die Abgaben völlig ungemessene waren, selbst über Leib und Leben schaltete der Herr. Gegen die größten Frevelthaten war der Bauer schutzlos, denn Klagen konnten niemals zu einem guten Ende führen, da nur der Herr seinen  Unterthan vor Gericht vertrat.

Besser standen allerdings die Bauern auf den Königlichen Gütern. Sie waren freilich auch zu Diensten verpflichtet, durften in diesen aber nicht erhöht werden. Auch hatten sie das Recht, gegen den Starosten zu klagen.

Eines gesicherten Besitzes erfreuten sich die Hauländer, welche auf Grund besonderer Privilegien von dem polnischen Adel zur Verbesserung seiner Einkünfte vielfach angesetzt waren. Auch sie hatten ja bestimmte Dienste zu leisten und Abgaben zu zahlen. Aber diese Hauländer, die ihrer Hauptmasse nach von Deutschland herangezogen waren, hätten ihren neuen Besitz nicht angetreten, ehe ihnen nicht ihre Rechte verbrieft und versiegelt gewesen wären. Und es lag im wohlverstandenen Interesse des Adels, diese Rechte zu achten, da der aus ihnen erwachsende Wohlstand ihm selbst durch die steigende Grundrente zu Gute kam.

Abgesehen von diesen Ausnahmen „stand die polnische Bauernschaft als eine träge, stumpfe, durch Trunk und Elend verthierte Masse dem Untergang des Reiches theilnahmslos gegenüber. Von der Änderung konnte sie nur Besserung erwarten, eine schlimmere Stellung war nicht möglich. Aber sie erwarteten nichts; sie, die keine Geschichte bis dahin gehabt, konnten von keiner Zukunft etwas hoffen.“ (Hüppe, Verfassung der Republik Polen, S. 62).

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Quellen soweit nicht direkt im Text oder in der Bildbeschreibung genannt:
Sonder-Veröffentlichungen der Historischen Gesellschaft für die Provinz Posen III. Das Jahr 1793 – Posen 1895
Auszug – Zweites Kapitel – Zustand des Landes – Seite 65 ff