Evangelische Kirchen-Gemeinde Neustadt bei Pinne 1879 – Teil 1

Deckblatt der Jubiläumsschrift

  • Nachrichten über die Evangelische Kirchen-Gemeinde
  • augsburgischer Konfession
  • NEUSTADT bei Pinne
  • zu ihrem hundertjährigen Jubiläum
  • am 15, August 1879
  • aus den Kirchen-Akten
  • zusammengestellt von
  • Reylaender, Pastor

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„Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Er weidet mich auf einer grünen Au und führet mich zum frischen Wasser; er erquicket meine Seele, er führet mich zum frischen Wasser; er erquicket meine Seele, er führet mich auf rechter Straße, um seine Namens willen. Und ob ich schon wanderte im finstern Thal, fürchte ich kein Unglück, denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab tröstet mich.“ Psalm 23. Das war Davids Zuversicht; in derselben ist er nicht getäuscht worden. Ob als Hirtenknabe unter den Schrecknissen der Einöde, ob misstrauisch angesehen und verfolgt vom Könige Saul, ob selber die Krone tragend und kämpfend gegen Feinde, gegen falsche Freunde, gegen missratene Kinder, ob ein Mann nach dem Herzen Gottes, ob irrend und strauchelnd, – immer blieb doch der Herr sein Hirte, unter dessen Schulz er kein Unglück fürchten durfte.

Auch die Neustädter Gemeinde hat schwere Zeiten durchmachen müssen. So mancher Kampf war ihr beschieden, harte Lasten waren zu tragen, schwere Opfer zu bringen. Heilig und unsträflich, ohne Flecken oder Runzel, wie es der Apostel Epheser 6 von einer Christengemeinde fordert, ist die Neustädter Gemeinde auch nicht gewesen. Aber dennoch ist der Herr allezeit ihr Schulz und Schirm gewesen, hat geholfen und getragen und Gnade gegeben, dass sie nun voll Dankes auf 100 Jahre göttlicher Barmherzigkeit zurückblicken kann. Darum lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat. Und damit wir es nicht vergessen, wollen wir einen Blick rückwärts werfen auf die Anfänge unserer Gemeinde und ihr Werden und Wachsen verfolgen bis auf den heutigen Tag.

Evgl. Kirche zu Neustadt Pinne (Ruine) – Aufn. Sep. 2009 GT

Die ersten Lutherischen inmitten der polnischen und zugleich katholischen Bevölkerung in dieser Gegend waren Anbauer aus den sächsischen Landen, aus der Lausitz und aus Schlesien, welche von der Mitte des 17. Jahrhunderts an nach Polen kamen, von der polnischen Grundherrschaft wegen ihrer Betriebsamkeit gern aufgenommen wurden, von ihr Land erhielten und Kolonien bildeten, welche bis auf den heutigen Tag „Hauländereien“ genannt werden. Die ältesten sollen die von Wymyslanke, Komorowo, Schleife, Blake, Sempolno, Lipke, Tarnufce und Zamorze gewesen, etwas später Chmielinko, Kuschlin, Chelmno, Rutki, Daleschinko und Lewitz entstanden sein, und als jüngsten gelten Neubolewitz, Milostowo und Psarski. – Ausserdem traten schon frühzeitig bei den polnischen Gutsherren deutsche Schäfer in Dienst, und in den Städten Neustadt (Die Stadt Neustadt hat ihr ältestes Privileg vom Jahre 1419, in welchem der Graf Senzivoj von Ostrorog, Posenscher Palatin und General von Polen, aus seinen beiden Dörfern Woyshin und Wieszewzin eine Stadt unter dem Namen Lwow (Löwe), später Lwowek (Löwchen) genannt, bildet. Der König Wladislaus verleiht ihr 1514 Magdeburgisches Recht. König Stephan vermehrt 1583 ihre Privilegien. In der Mitte des 17. Jahrhunderts war der Woywode Opalinski auf Bnin Erbherr von Lwowek, von welchem es auf die Familie Pawlowski überging. Der Bischof Joseph Pawlowski vererbte Lwowek, damals schon polnisch Neustadt genannt, auf seine Nichte Hedwig, verwitwete von Lacka, in 2. Ehe vermählt mit dem Grafen Bninski. Von ihr ging es 1796 auf ihren Sohn Melchior von Lacki über, dessen Nachkommen noch heute die Neustadt Posadowoer Güter besitzen.) und Pinne ließen sich viele deutsche Handwerker nieder. – In der Mitte des vorigen Jahrhunderts gab es auch unter den Gutsbesitzern schon einige Evangelische, nämlich zu Lewitz die Familie von Haza-Radlitz und zu Luboschin die Familie von Unruh.

Die Befriedigung ihrer religiösen Bedürfnisse war für diese Evangelischen mit den größten Schwierigkeiten verbunden. Es war nicht immer so gewesen. Die Reformation hatte ehemals auch in Polen Eingang gefunden. Ein großer Teil des polnischen Adels war evangelisch gewesen, blühende Gemeinden lutherischer und reformierter Konfession in Eintracht neben einander lebend, hatten bestanden. Volle Religionsfreiheit hatten sie genossen. Dann waren aber unter der Regierung des Königs Sigesmund die Jesuiten allmächtig geworden, hatten am Anfang des 17 Jahrhunderts von Evangelischen ihre Kirchen geraubt, gegen Recht und Gesetz viele Gräuel an ihnen geübt, und den größten Teil des polnischen Adels und Volkes wieder zum Katholizismus hinübergezogen. Diejenigen Kirchen nun, welche war jenem Ansturm verschont geblieben waren, oder die wenigen, welche seitdem unter dem Schutz eines mächtigen Adligen neugegründet waren, – diese waren es, zu welchen die zerstreuten deutschen Kolonisten pilgern mussten, um einmal das Abendmahl zu empfangen. So zogen sie denn auch aus der Umgegend von Neustadt, meist in Karawanen und bewaffnet, um sich vor den Angriffen der Katholischen zu verteidigen, nach Birnbaum und Bauchwitz, ja nach Züllichau und Driesen. Mit Taufen und Trauungen waren sie an die katholische Geistlichkeit gebunden. Was die Begräbnisse betrifft, so hatten die Lutherischen meist ihre eigenen Kirchhöfe, auch der Stadt Neustadt war von einem der Grundherren (vielleicht von Opalinski) ein Stück Land an den Mühlen dazu gegeben worden, aber unter der überhaupt und überall geltenden Bedingung, dass die Leichen nur nach Sonnenuntergang still beerdigt und zuvor bei dem katholischen Geistlichen ausgelöst werden mussten. Dass die Lutherischen dabei arg geschröpft zu werden pflegten, ersieht man daraus, dass von dem Färber Georg Kärger, einem der ältesten lutherischen Bürger der Stadt, als ihm seine Ehefrau Catharina geb. Schreiber starb, 40 Thaler gefordert wurden, welche Summe dann auf sein inständiges Bitten auf 10 Thaler ermäßigt wurde. In den Hauländereien suchte man sich dem oft zu entziehen und begrub die Leichen heimlich. Wurde das aber entdeckt, dann konnte es vorkommen, wie es einem Hannebohm in Wymyslanke in alter Zeit passiert sein soll, dass die Leiche gewaltsam wieder ausgegraben und auf dem katholischen Kirchhofe begraben wurde. Im Übrigen waren die Kolonisten auf die sonntägliche Predigtvorlesung durch die Lehrer angewiesen, welche letzteren daher auch ganz allgemein Vorleser genannt wurden. Wann die Schulen in den einzelnen Hauländereien gegründet sind, lässt sich leider nicht mehr feststellen. Auch die Rektorschule in Neustadt scheint schon vor der Gründung des Kirchspiels bestanden zu haben.

Die Lage der Evangelischen besserte sich bedeutend, als im Jahre 1768 unter dem Drucke der russischen Regierung der polnische Reichstag das Toleranzedikt erließ, nach welchem den Dissidenten (Andersgläubigen) freie Religionsübung zugesagt wurde. Noch einmal bestätigt wurde dasselbe durch den Reichstagsbeschluss von 1775. – Auf diese beiden Gesetzte sich stützend, errichteten die Evangelischen allerwärts im Lande nunmehr Kirchen. Auch die in Neustadt und Umgegend unter Anführung des Hauptmannes Samuel Alexander von Unruh auf Luboschin wandten sich an den Grundherrn von Neustadt, den Grafen Lucas von Bninski in Posadowo, mit der Bitte um Überlassung eines Grundstücks zur Erbauung einer lutherischen Kirche. Unter dem heftigsten Widerspruch der katholischen Geistlichkeit und seiner eigenen Gemahlin (der eigentlichen Besitzerin der Güter) überließ Graf Bninski vorläufig die inneren Räume seine Stadtschlosses den Lutherischen und gestattete, dass die benachbarten lutherischen Geistlichen, Förster und Rosenkranz aus Birnbaum, Kaulfuß aus Politzig, Zachert aus Meseritz, sowie die Pastoren aus Wronke und Obersitzko abwechselnd in demselben Gottesdienst abhalten durften. Diese Schloßpredigten, die so zahlreich besucht wurden, dass oft der ganze Schloßhof mit Zuhörern erfüllt war, zu welchen Glaubensgenossen von Neutomischel und Zirke, ja bis aus der Gegend von Wollstein und Posen hinzugeströmt sein sollen, währten um 1775-1779.

Evgl. Kirche Neustadt Pinne (Ruine) – Aufn. Sep. 2009 PM

Unterdessen war Herr von Unruh, welcher als der eigentlichen Gründer der Neustädter Kirchengemeinde anzusehen ist, unablässig tätig, das angefangene Werk zu vollenden und die Erbauung einer Kirche, sowie die Berufung eines Geistlichen durchzusetzen. Das damals in Lissa befindliche Konsistorium „der Kirchen unveränderter Augsburger Konfession in Groß-Polen“ erteilte 1776 den Konsens. Nun schritt man zur Wahl eines Pastors. Sie fiel auf den Pastor Kaulfuß, welcher unter allen Gastpredigern am besten gefallen, der auch die meisten Amtshandlungen bisher schon verrichtet und das vom Kreissenior Rosenkranz aus Birnbaum am 22 Oktober 1775 begonnene Kirchenbuch (Das Totenregister beginnt mit folgender Eintragung: „Das erste öffentlichen Begräbnis der Evangelischen in der Stadt ist gewesen Herrn Geog Adam Sehsing Kaufmanns allhier Söhnlein, welches mit einer Standrede im Hause und 2 Liedern vor der Thür am Ring unter vielem Zulauf von Leuten allerlei Religionen, Katholiken, Lutheranern, Reformierten und einer großen Menge Juden beerdigt und die Prozession über den Ringe, mit öffentlichem, lautem Gesange, nach dem Kirchhof zu genommen wurde. Auf dem Schwan aber wurde folgender Martin Klinke das erste Mal öffentlich begraben. Damals war ich J. G. Kaulfuß noch in Politzig als Pastor, verrichtete aber die actus ministeriales als Pastor vocatus zugleich hier in Neustadt und war also das erste Begräbnis in der Stadt, wobei ein evangelischer Prediger zugegen gewesen“ (1776)) weiter geführt hatte. Diesem wurde am Gründonnerstag 1777 die Vokation erteilt.