Die Hebamme von Neutomischel – um 1830

Der Beruf der Hebamme – Quelle: http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Eucharius_R%C3%B6%C3%9Flin_Rosgarten_ Childbirth.jpg?uselang=de

In den letzten Tagen gingen über die Medien in Deutschland viele Diskussionen über den Beruf der freiberuflichen Hebamme.

Wie war es aber eigentlich in früherer Zeit ? – Berthold Roy dessen Mutter die einzige Hebamme ihrer Zeit  in Neutomischel und den Hauländereien gewesen sein soll, hat seine Erinnerungen an sie in seinem Buch „Kind, Jüngling, Mann“- erschienen im Jahr 1895-  schriftlich festgehalten.  Man kann aus diesen einen kleinen Eindruck über das Leben einer Geburtshelferin jener Zeit gewinnen.

Nicht näher eingegangen wird auf die Schwierigkeiten bei einer Geburt, der Gefahr für die Mutter, den wenigen Hilfsmitteln, die eigentlich zur Verfügung standen und auch nicht auf die hohe Kindersterblichkeit.

Am Ende des Artikels wurde ein kleiner genealogischer Lebenslauf dieser bemerkenswerten Frau Brettschneider verehelichte Roy hinzugefügt.

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„ … Ganz anders geartet (im Wesen als der ruhige Vaters) war mein Mütterchen.. Sie stammte aus Schlesien und war um mehrere Jahre älter als mein Vater. – Sie mag wohl unsere Haupternährerin gewesen sein. Sie war, wie dies ja bei der Mutter selbst des großen Sokrates der Fall war – Hebamme. – Diesen Beruf hatte sie ergreifen müssen als kinderreiche Wittwe eines ohne Hinterlassung von Vermögen verstorbenen Arztes, der aus dem damals französischen Saarlouis stammend, während der napoleonischen Zeit hier, wo ein Arzt fehlte, sich niedergelassen hatte.

Meine Stiefgeschwister – es waren noch welche aus erster Ehe des Arztes vorhanden – waren mit zunehmenden Jahren behufs Erlernung irgendeines Berufes, nach und nach aus dem Hause getan worden.

Meine Mutter war damals die einzige Hebamme weit und breit, nicht nur für das Städtchen, sondern auch für die ringsum sich meilenweit in die Ferne erstreckenden Hauländereien. Wenn man nun bedenkt, dass, wie schon oben erwähnt, die Gehöfte und Besitzungen der einzelnen Hauländer von Zäunen umgeben, und die einzelnen Arten des Besitztums wiederum von Zäunen umfriedet waren,  (es war üblich über diese erwähnten Zäune zu steigen um den Weg zu seinem Ziel abzukürzen, da die Wege sich so durch die Landschaft schlängelten, dass ihre Nutzung zu mehr als großen Umwegen führten) so sagt an, welche kernige Gesundheit muss nötig gewesen sein, um über 40 Jahre hindurch bei Reich und Arm, im Sommer und Winter dem „Storch“ die Beute abzunehmen. Das zehnte Mal vielleicht wurde sie mit der Fuhre abgeholt, weil arme Häusler und Tagelöhner keine beschaffen konnten. – Auf solche menschlichen Familienverhältnisse nimmt eben weder Sturm, Hagel, Schnee und Nebel eine Rücksicht. – Die Zeit ist da, und das vor den Toren des Erdenlebens stehende Menschlein begehrt stürmisch den Eintritt, um vielleicht dereinst, als ein gebrochener Greis, froh zu sein, die Uniform des Erdenpilgers in die Grabkammer hängen zu können.

Wie gesagt, oft im härtesten Winter, beim schlimmsten Unwetter, bei Nacht und Nebel, bei Sturm und Regen, zu Zeiten, wo man keinen Hund hinaus gejagt haben würde, wurde sie zur Ausübung ihres Berufes geholt, und kaum heimgekehrt, froh, ein wenig der Ruhe pflegen zu können, schon wieder herausgeklopft, um vielleicht weithin zu blutarmen Leuten, über Wurzel und Stein zu „stolpern“, wie sie es launig nannte. Manchmal war sie zu früh geholt worden, so dass sie Tage lang, vielleicht nur auf einer harten Bank schlummernd und bei so gut wie keiner Verpflegung an Ort und Stelle bleiben musste, während wir Kinder des Anblickes unserer so sehr von uns geliebten Mutter entbehren mussten. Mir lag dann noch besonders die Obhut und Verpflegung der jüngeren Geschwister ob.

Statt nun in solchen Fällen, den verdienten Lohn für ihre Mühen zu empfangen, musste sie selbst in die Tasche greifen und für die ihr anvertrauten Ärmsten, Mutter und Kind, sorgen, in Hütten und Wohnungen, wo, wie sie immer witzig sagte; „nicht weniger als Alles fehle“ und „wo der Hunger Schildwacht stände“.

Witzig, gesprächig und leutselig, wie mein Mütterchen war, konnte sie eine ganze Tafelrunde unterhalten. Von Natur war sie klein und untersetzt; im Wesen hurtig und betulich. Sie, welche den Wert der Zeit so sehr kennen lernten, mochten, bei all ihrer Herzensgüte, langsame Leute nicht um sich leiden. „Dreht Euch, dreht Euch“ höre ich sie noch heute ausrufen, wenn man ihr eine Leistung langsam verrichtete. Immer hilfsbereit, konnte sie dem Dürftigen nie etwas abschlagen, und ihr wohltätiger Sinn wurde leider oft missbraucht. – Wenn man sie dieser halb zu tadeln wagte, erwiderte sie kurz: „Das wird der liebe Gott einmal meinen Kindern wiedergeben.“

Dabei war sie eine wirklich kluge Frau, eine „Sage femme“, wie ja die Franzosen die Hebamme nennen. Ihr Rat wurde von weither eingeholt, da auch der Ärztedienst zu damaliger Zeit viel zu wünschen übrig ließ, und der einzige im Städtchen wohnende Kreis-Wundarzt bei den Leuten nicht beliebt war. Die Frauen zumal bezeigten meinem Mütterchen unbegrenztes Vertrauen. Des Sonntags, wenn sie zur Kirche in das Städtlein kamen, war unser Stübchen oft gefüllt von ihnen. Für ihre Kuren nahm die Mutter keine Bezahlung an, jedenfalls durfte sie es nicht, ohne wegen gewerbsmäßiger Ausübung der Heilskunde amtlich belangt zu werden. Lebte sie unter der heutigen gesetzlichen Anschauung dieser Dinge, so würde sie uns ein Vermögen hinterlassen haben. – Ihre Heilungen müssen ihr geglückt sein, sonst hätte sie nicht bis in ihr hohes Alter solchen Zulauf gehabt. –

Ich entsinne mich, sie nie vor dem 72. Lebensjahre je ernstlich krank gesehen zu haben, trotzdem sie den ununterbrochenen Dienst einer Heldin durch mehrere Jahrzehnte hindurch geleistet und viele Tausende von kleinen Erdenbürgern in das Dasein geleitet hat.

Endlich musste auch sie, die langjährige Kämpferin gegen Not und Elend, auf ihrem Ehrenfelde die Waffen strecken vor einer Krankheit, die sie sich durch Erkältungen, unaufhörliche Anstrengungen und Entbehrungen bei ihrem Beruf zugezogen, nämlich vor Gicht und Rheumatismus. Sieben lange, lange Jahre hat sie mit dem Feinde auf dem Siechbette gerungen. Keine Liebe, die sie so reichlich gesäet und nun so reichlich erntete, konnte ihr helfen. 1880 schloss sie ihre Augen.“

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Eine bemerkenswerte Frau

Johanna Friederika geborene Brettschneider, so hieß die Mutter, deren Name von Berthold Roy in seinen Erinnerungen nicht ein einziges Mal erwähnt wurde, wurde um 1804 in Przemko / Primkenau in Schlesien – dieses unter dem Vorbehalt der richtigen Entzifferung der Kirchenbuch Eintragung – als jüngste Tochter des dortigen Bürgers und Schuhmachers Balthasar Gottlieb Brettschneider geboren.

Aus ihrer Lebensgemeinschaft mit dem Batallionsarzt Johann Philipp Jacob Thomas (geb. ca. 1767) stammten (u.ü.V.) die Kinder:

  • Albert Thomas geb. ca. 1819  – späterer Bäckergeselle in Neutomischel und verehelicht mit Carolina Janotte geb. ca. 1823
  • Johann August Heinrich Thomas geb. ca. 1821 – erwähnt als Schuhmachergeselle zu Primkenau und verehelicht mit Johanna Juliana Carolina Richter
  • Friedrich Oswald Thomas geb 11 Dezember 1823 zu Wollstein – er wurde Schneidermeister in Neutomischel, wird allerdings auch als Kämmerer der Stadt erwähnt, verehelicht war er in 1ster Ehe mit Friedrika Rosina Rosalia Henrietta Seidelt geb. 30 Oktober 1823 in Neutomischel, in 2ter Ehe mit Johanna Juliana Tepper geb. ca. 1846 in Beleczin Krs. Bomst und in 3ter Ehe mit Augusta Ottilia Reich geb. 23 August 1845 in Moschin
  • Hugo Friedrich Thomas geb. 22 Dezember 1826 zu Wollstein – wird erwähnt als Schuhmacher zu Glinau, als Schuhmachermeister in Jablone und in Neutomischel, verheiratet war er mit Johanna Amalia Augusta Tepper geb. 09. März 1831 zu Sontop
  • Emilia Juliana Friederika Charlotta Thomas geb. 17 Mär 1830 zu Neutomischel – von ihr war keinerlei Eintragung zu finden
  • Rudolph Oscar Thomas geb. 16 April 1832 zu Neutomischel – war verehelicht mit Anna Eleonora Heller geb. ca. 1832 – zusammen mit der 1857 geborenen Tochter Maria Emilia traf diese kleine Familie 1858 in Australien ein (http://homepage.mac.com/graememoad/Family/PS41/PS41_234.HTM

In den Erinnerungen heißt es zwar, dass Johanna Friederika Brettschneider als Wittwe Thomas gegolten hat, aber so wie die Geburtseintragungen der Kinder vorgenommen wurden, waren die beiden nicht „offiziell“ verheiratet.

Zu wann genau dieses Paar Thomas-Brettschneider in Neutomischel eintraf ist nicht bekannt. Zu vermuten ist, das es nach Dezember 1826, ihr Sohn Hugo Friedrich wurde noch in Wollstein geboren, gewesen ist; 1830 wurde bei der Geburt der Tochter Emilia Juliana Friederika Charlotta Neutomischel als Geburtsort angegeben.

Vielleicht war aber auch der Tod der Maria Dorothea Heydrich verheiratete Schulz geb. ca. 1756 und verstorben am 19 Mai 1828 der Auslöser, das dieses Paar nach Neutomischel kam, denn diese war laut Vermerken im Kirchenbuch als Hebamme in Neutomischel tätig gewesen.

Johann Philipp Jacob Thomas verstarb am 16. Januar 1833 in Neutomischel.

Nach dem Tod ihres Lebenspartners kam am 28. September 1835 in Neutomischel die Tochter Johanna Maria Brettschneider zu Welt; sie ehelichte später den Schlossermeister August Bielke.  Am 06 Mai 1839 folgte die Tochter Juliana Friederika Brettschneider, welche am 12. Oktober des gleichen Jahres verstarb.  Bei beiden Geburtseintragungen ist als Beruf der Mutter – Hebamme –  im Kirchenbuch eingetragen; der Vater oder die Väter sind nicht erwähnt.

Am 17 Oktober 1839, im Alter von ca. 35 Jahren, und etwas mehr als 6 Jahre nach dem Tod ihres langjährigen Lebenspartners schloss Johanna Friederika Brettschneider dann die Ehe mit dem ca. 14 Jahre jüngeren Johann Carl Heinrich Roy (geb. 12 März 1818 in Neutomischel) – einem Schuhmacher aus Glinau. Dem Haushalt gehörten nun vermutlich an: Albert (ca. *1819) – 20 Jahre, Johann August Heinrich (ca. *1821) – 18 Jahre,  Friedrich Oswald (*1823) – 16 Jahre, Hugo Friedrich (*1826) – 13 Jahre,  Rudolph Oscar (*1832) – 7 Jahre und  Johanna Maria (*1835) – 4 Jahre. Die Älteren der Kinder könnten aber ebenso gut schon aus dem Haus “getan” worden sein, wie es im vorstehenden Text heißt, da mit in etwa 13 Jahren die Schulzeit beendet war und die Kinder dann in die Lehre gegeben worden waren.

Hier sei eingeschoben, das die so genannte „Buttermilchgasse“, die in den Erinnerungen als Wohnsitz der Familie Roy erwähnt wurde, erst im Jahr 1888 nach Neutomischel eingemeindet wurde, und bis zu diesem Jahr zur Landgemeinde Glinau gehörte. Nur – in vielen Erzählungen und auch hin und wieder in den Kirchenbucheintragungen geraten die Grenzen der Stadt und der Gemeinden etwas „durcheinander“.

Aus dieser Ehe stammten dann noch die Kinder:

  • Johann Carl Berthold Roy geb. 23. August 1840
  • Maria Martha Roy geb. 22. Juni 1842
  • Paul Josua Roy geb. 06. November 1844, verstorben 18. Februar 1846
  • Carl Heinrich Roy geb. 30 Dezember 1847

Den vermutlich nach dem Tod ihres Lebenspartners Johann Philipp Jacob Thomas im Jahr 1833 aufgenommenen Beruf der Hebamme übte Johanna Friederika Brettschneider verheiratete Roy auch nach Ihrer Eheschließung weiterhin aus. Es heißt, dass sie 40 Jahre als Hebamme tätig gewesen ist.

Sie galt als die Haupternährerin der Familie.

Am 25. März 1880 verstarb Johanna Friederika Roy geborene Brettschneider nach 7 jähriger Krankheit

Zum Schluss noch eine kleine Statistik –  eingetragene Taufen im evangelischen Kirchenbuch von Neutomischel-

  • 1833      –              169
  • 1835      –              164
  • 1837      –              147
  • 1839      –              174
  • 1841      –              200
  • 1843      –              189
  • 1845      –              225