Adventszeit und Christabend in Neutomischel – um 1847

Engel in der Herz-Jesu-Kirche auf der Orgel - Aufn. PM

Berthold Roy beschrieb seine Erinnerungen an die Weihnachtszeit wie folgt: …Bald lehrten weihnachtliche Gesänge auch uns Schulkindern so recht die Herrlichkeit des „Friede auf Erden“; – denn die Adventszeit hatte, und mit ihr das sogenannte „Quempas“-Singen, wieder begonnen. In meinem Heimatstädtchen war es nämlich eine alte, wahrscheinlich durch die ersten Ansiedler eingeführte Sitte, vier Wochen vor Weihnachten, also mit der Beginn des Advents, für die Christnacht aus den besten Sängern der Schule einen Kirchenchor zusammenzustellen, um unter Leitung des Kantors, welcher auch als Lehrer der Vorschule vorstand, den sogenannten „Quempas“ zu üben oder zu lernen. Dieser Name ist eine volkstümliche Abkürzung der Worte: Quem pastores, mit welchem der altbekannte, lateinische, deutsche Weihnachtsgesang:

Quem pastores laudavere (den Hirten lobten schon)

begann. Dieser Gesang stand immer auf der ersten Seite des Gesangsheftes, welches jeder Sänger in seiner Familie ererbt oder neu angefertigt hatte. Dieses „Quempas“-Singen war eine Merkwürdigkeit in Neutomischel, ich wenigstens habe es anderwärts nicht wieder angetroffen. (Anm. der Autoren, es gab dieses auch anderswo, vergl. http://de.wikipedia.org/wiki/Quempas)

Die ältesten, schönsten und lieblichsten Weihnachtsgesänge der deutschen Christenheit waren in diesem Heftchen nebst Text und Noten handschriftlich aufgeführt. Oberhalb der ersten Notenreihe stand in buntester Frakturschrift die erste Verszeile der Lieder: z. B. „Quem pastores laudavere“, „Lobt Gott ihr Christen allzugleich“, „Es ist ein Ros‘ entsprungen“, „Stille Nacht“, „Vom Himmel hoch, da komm ich her“, „Gelobet seist du Jesus Christ“, „O, du selige, du fröhliche“ u.s.f.

In alten Zeiten, als die Buchdruckerkunst noch unbekannt war, kann, in den Mönchsklöstern, kaum ein größerer Kunstfleiß bei Herstellung farbiger Frakturen auf heiligen Pergament-Urkunden verwendet worden sein, als es hier die Sänger familienweise taten. In welcher Weise jeder seinen Kunst- und Farbensinn schon fast das ganze Jahr hindurch vorher bestätigte, ließ keiner dem Anderen vor Beginn der Gesangsübungen merken. Dann aber wurden die „Karten aufgedeckt“, und mit stillem Neid oder unverhohlener Freude schaute sich dann der Minderbegabte die Leistungen seines Gesangsgenossen an. – Jedes Lied musste mit einer anders gearteten und mit in unterschiedlichen Farbenverbindungen getuschter Frakturschrift beginnen. Besonders die Anfangsbuchstaben konnten nicht kunstvoll genug sein. Auch zur Herstellung ganzer Bilder verstieg sich die Phantasie einzelner Künstler, z. B. „Adam, Eva und die Schlange, mit dem Apfelbaum“ als Eingangsbild; „Die Geburt Christi im Stall“, „Die Flucht nach Ägypten“ u.s.w.

Kronleuchter in der Herz-Jesu-Kirche - Aufn. PM

Endlich war der Christabend erschienen. – Hatte nun die Schöpfung ihr weißes Festkleid angezogen, oder fielen noch silberne Flocken zu Erde, so dass kein Tritt zu hören war, und fingen die Glocken an in feierlichen Pulsen durch die stille Abendluft zu ertönen, da senkte sich ein unbeschreiblicher Feierzauber in Herzen und Gemüter namentlich der Kleinen, der Pulse eine schnellere Gangart annahmen. Und wie Heinzelmännchen, mit Wachskerzchen oder Stöckchen in der Hand, huschten sie aus den Haustüren, von Erwachsenen begleitet, zur Kirche. Auch vom Lande strömte Groß und Klein in die Stadt. Schnell füllen sich die Räume der Kirche. Mächtig brausen der Orgel weihnachtliche Akkorde durch die kreuzweise sich schneidenden Hallen des Gotteshauses, welches durch Kronleuchter und Hunderte von Kindeshand getragener Kerzen lichtdurchflutet ist. – Die Orgel schweigt. – Horch! – Sind das Engelstimmen, deren sanft beginnender und allmählich anschwellender Gesang des „Quem pastores laudavere“ herniederzusteigen scheint, um auf der unteren Empore, westlich gegenüber, weiterzuklingen im zweiten Chor:

Quibus angeli dixere (Und die Engel noch vielmehre)

bis die dritte Zeile:

Absit vobis jan timere (Fürcht Euch nicht zu dieser Frist)

im höheren Chor der Südseite von einem dritten zweistimmigen Knabengesang wie aufgefangen wird, um mit

Natus, es rex floriae (Geborn ist der Herr Jesus Christ)

auf der Nordseite der unteren Empore durch einen vierten Chor beschlossen zu werden. – Und so folgt – von dem Vortrag des Pastors unterbrochen, – Lied auf Lied, bis die Christfeier in der Kirche beendet ist und die Feier im traulichen Kreise der Familie unter aufleuchtenden Christbäumen beginnt.

Die Wirkung jener Feier ist mächtig, und der Mensch der sie als Kind erlebt hat, verliert diesen herrlichen Eindruck nie, solange er lebt.

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Quelle: Auszug aus „Kind – Jüngling – Mann – Selbsterlebtes aus Kriegs- und Friedenszeiten (1840-1871) geschildert von Berthold Roy“ erschienen 1895