Apotheker Speichert, Bomst – Wiederaufnahmeverfahren gegen die Verurteilung wegen Mordes / 1886-1887 – Teil -2-

Blick auf Bomst – AK Ausschnitt

Bericht Hannoverscher Kurier – Hannoversche Tageblatt – Dienstag 23.11.1886

Bomst. In der Wiederaufnahme des Verfahrens gegen den wegen Gattenmordes zum Tode verurtheilten und zu lebenslänglicher Zuchthausstrafe begnadigten Apotheker Speichert in Bomst, derselbe büßt die Strafe im Zuchthause zu Cronthal – fand am jüngsten Montag die Exhumierung der Leiche der Frau des Verurtheilten auf dem hiesigen evangelischen Kirchhofe statt.

Als Sachverständige waren anwesend und wurden wie folgt im Protocoll verzeichnet die Herren: Kreisphysikus Dr. Schnabel aus Wollstein, Geheimer Medicinalrath Professor Dr. Liman aus Berlin, gerichtlicher Chemiker Dr. C. Bischoff aus Berlin, Professor der Chemie und Director des chemischen Instituts der Universtität zu Breslau, Dr. Loewig, Geheimer Medicinalrath Dr. Koch aus Berlin, Geheimer Medicinalrath Dr. Wolff aus Berlin.

Von der königlichen Staatsanwaltschaft wurde verlangt, daß die Herren feststellen sollten: „in welchem Zustande die Leiche, die Kleidung, der Sarg und die Graberde seien“. Am Grabe angelangt wurde durch den anwesenden Todtengräber und die übrigen drei Arbeiter die Beerdigungsstätte der Frau Speichert constatiert und gegen Mittag war der Sarg bloßgelegt. Der Deckel des Sarges war zwar flach gedrückt, doch die Bretter leidlich erhalten. Mit Tüchern und Stricken, zufällig unter dem Geläute der Mittagsglocke, war es den vier Arbeitern möglich, den Sarg aus dem Grabe auf eine Tischplatte zu heben. Von allen Seiten des Sarges waren Erdtheile zur Untersuchung auf ihre chemische Beschaffenheit entnommen worden, welche aus ziemlich trockenem Sande bestand. Vorsichtig wurden die Holztheile des Sargdeckels entfernt. In gutem Zustande fand man den festen Seidenstoff des Kleides, während von dem leinenen Sterbehemde nur vermoderte Reste vorhanden waren. Die Leiche selbst bestand jedoch nur noch aus Knochen, die sich leicht von einander lösten. Von Fleisch war nichts mehr vorhanden, nur in den Weichtheilen fand man noch eine dunkelbraune, feuchte Masse. Eine Mumifizierung der Leiche konnte nicht constatiert werden. Der Trauring wurde am blanken Fingerknochen gefunden und in Verwahrung genommen.

Sorgsam wurden die wichtigsten Leichentheile, Kleiderreste und Sargstückchen, sowie die entnommenen Erden in Kruken, Gläsern und festem Papier gesammelt und, in einer Kiste verpackt, unter gerichtliches Siegel genommen, um schließlich von Bentschen aus nach Berlin gebracht und dort auf das Vorhandensein von Giften chemisch untersucht zu werden.

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Bericht Berliner Tageblatt und Handels-Zeitung, Morgen Ausgabe – Freitag 19.11.1886

Bei dem berechtigten großen Aufsehen, welches das mit einer Leichen-Exhumierung verknüpfte Wiederaufnahme-Verfahren in dem Prozesse des zum Tode verurtheilten und zu lebenslänglicher Zuchthausstrafe begnadigten Apothekers Speichert-Bomst in weitesten Kreisen erregt, dürfte es für unsere Leser von Interesse sein, etwas Näheres über den Verurtheilten zu erfahren, der bereits seit elf Jahren (sein Leben) im Zuchthause zu Cronthal verbringt.

Unsere Mittheilungen rühren von einem Manne her, der als Buchhalter mehrere Jahre in einer Fabrik thätig war, welche ihre Artikel zum Theil in der Strafanstalt zu Cronthal anfertigen ließ und der fast täglich Gelegenheit hatte, mit Speichert, der dem betreffenden Fabrikanten zur Beschäftigung überwiesen war, geschäftlich zu verkehren. Wir geben unserem Gewährsmann das Wort:

Speichert ist einer sehr großer, starknochiger Man, dessen Haar bereits dünn zu werden begann, sein Gesichtsausdruck ist ein intelligenter, sein Benehmen und seine Bewegungen sind ruhige. Man sieht sofort, daß man einen den besseren Ständen angehörigen Mann vor sich hat, trotz der Anstaltskleidung. Die mechanische Beschäftigung behagte ihm nicht, jedenfalls gab die Ausführung seiner Arbeiten öfter zu Klagen Veranlassung. Er war, wie man so sagt, nicht bei der Sache, seine Gedanken waren anderswo. Er arbeitete damals allein in einer Zelle, die einen Tisch mit seinem Arbeitsgeräth, einen Schemel und eine während des Tages an der Wand hochgeklappte und angeschlossene Bettstelle enthielt. Kam man nun in seine Zelle, um die von ihm gefertigte Arbeit zu revidieren oder nachzusehen, ob er noch Arbeits-Material habe, so war sein Benehmen stets das eines gebildeten Mannes, grundverschieden von dem der anderen Gefangenen, die zum Theil kaum ein Wort Deutsch sprechen können.

Ich glaube, es war ihm wohl stets eine angenehme Unterbrechung, wenn man aus erwähnter Veranlassung zu ihm kam, denn er suchte dann möglichst lange über die Arbeit, das Material etc. zu sprechen und behauptete zum Schluß immer seine Unschuld und bejammerte sein Loos.

Ich erinnere mich eines Ausspruchs von ihm: „Herr“, sagte er zu mir, „wenn ich meine Frau hätte vergiften wollen, so würde ich doch nicht so dumm gewesen sein und Arsenik genommen haben, da ich als Apotheker doch weiß, daß Arsenik in der Leiche gefunden wird, ich bin unschuldig hier.“ Da nun fast jeder der Sträflinge in der Strafanstalt behauptet, er sei „unschuldig“, so gibt man natürlich bei täglichem Verkehr mit diesen Leuten nichts mehr auf solche Aeußerungen, doch gerade bei Speichert sagte ich mir stets, er müsse wirklich entsetzlich sein, wenn er in der That unschuldig und so zum „lebendigen Tode“ verurtheilt sein sollte.

Jedenfalls hatte er weder große Lust noch Geschick zur mechanischen Arbeit, und dies ist wohl erklärlich bei einem Menschen, der so lange eine ganz andere Beschäftigung hatte. Er wurde auf mehrfache Klagen bald unserer Beschäftigung entzogen und einer anderen zugetheilt. Auch dort dauerte es nicht lange und bei meinem Abgang sah ich Speichert in einem gemeinschaftlichen Arbeitssaal noch Garn spulen für die Anstalt.

Beliebt war Speichert gerade nicht, weder bei den übrigen Sträflingen noch bei den Privatwerkmeistern und den Aufsehern. Er wollte denselben „imponieren“ und das wurde ihm verdacht. Denn daß er unschuldig sein könne, daran wurde ja nicht im Geringsten gedacht. Die Sträflinge sahen einen Ihresgleichen in ihm, der sich über sie erheben wolle, die Werkmeister einen Sträfling wie jeden anderen, der ihnen zur Beschäftigung zugetheilt war, und die Aufseher einen Gefangenen, den sie zu beaufsichtigen hatten. Die Behandlung der Gefangenen in der Strafanstalt ist eine sehr humane, doch blieben für Speichert Disziplinarstrafen nicht aus, die er sich aus verschiedenen Ursachen zuzog.“

So weit unser Gewährsmann. – Es wäre in der That entsetzlich, wenn Speichert die lange Reihe von Jahren wirklich unschuldig im Zuchthause verbracht hätte. Er, der Gebildete, unter verwilderten Verbrechern des Tags über im Arbeitssaal und während der Nacht in einem gemeinsamen Schlafsaal!

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Bericht Leipziger Tageblatt und Anzeiger – Amtsblatt des Königlichen Amts- und Landgerichtes Leipzig und des Rathes und Polizeiamtes der Stadt Leipzig – Sonntag 21.11.1886

Posen, 20. November (Privattelegramm) Apotheker Speichert aus Bomst, der wegen vermeintlicher Vergiftung seiner Frau zum Tode verurtheilt, sodann zu lebenslänglicher Zuchthausstrafe begnadigt war und schon 10 Jahre im Zuchthause verbracht hat, ist wegen schwerer Erkrankung aus seiner Haft entlassen worden und befindet sich gegenwärtig hier bei seiner Mutter.

Bekanntlich kommt seine Angelegenheit jetzt nochmals zu gerichtlicher Verhandlung, da nach Professor Loewig’s Gutachten keine Vergiftung stattgefunden hat.

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Bericht Berliner Tageblatt und Handels-Zeitung, Morgen Ausgabe – Dienstag 23.11.1886

Zur Affaire Speichert-Bomst. In Ergänzung der bereits in unserer Montags-Ausgabe veröffentlichten Nachricht über die Entlassung des Apothekers Speichert aus dem Zuchthause in Cronthal wird uns von befreundeter Seite geschrieben, daß ein inniges Gefühl tiefer Theilnahme alle Umstehenden ergriff, als Speichert, von seinem Bruder, der Amtsrichter in Bromberg ist, und dem Strafanstaltsdirektor Wolf geleitet, das seiner harrende Gefährt bestieg, um nach einem Hotel in Crone a. Br. überführt zu werden.

Der ehemals kräftige Mann ist völlig gebrochen, das Gesicht ist fahl und bleich – er leidet an Rheumatismus – und es ist keine gegründete Hoffnung vorhanden, daß er neben seiner Rehabilitierung auch seine verlorene Gesundheit wieder erhalten wird.

Für unsere Leser dürfte es wohl von Interesse sein, zu erfahren, daß eine an und für sich geringfügige Ursache seiner Zeit Veranlassung zur Erhebung der Anklage gegeben hat.

In Bomst, dem früheren Domizil des Speichert, fand im Jahre 1875 ein Honorationenball statt, an dem sich auch Speichert, da das Trauerjahr nach dem Ableben seiner Frau bereits vorüber war, betheiligte. Bei dieser Gelegenheit gerieth Speichert mit einem in der Gesellschaft anwesenden Gutsbesitzer in einen heftigen Wortwechsel, wobei der von dem Letzteren öffentlich des Gattenmordes bezichtigt wurde.

Speichert strengte gegen seinen Beleidiger die Klage an, und dieser bestand darauf, den Beweis der Wahrheit antreten zu wollen. Die Leiche wurde, trotzdem ein Jahr nach dem Tode der Frau Speichert verstrichen war, exhumiert und von dem jetzigen Geh. Medizinalrath Koch, der zur Zeit Kreisphysikus in Wollstein war, seziert und zur weiteren chemischen Analyse dem Professor Sonnenschein in Berlin überwiesen. –

Das Gutachten fiel bekanntlich zu Ungunsten Speicherts aus, und dieser wanderte nach seiner Verurtheilung  zunächst nach der Strafanstalt zu Rawitsch, von wo aus er nach einigen Jahren in dem Zuchthause zu Kronthal interniert wurde.

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Bericht Hallesche Tageblatt – Dienstag 30.11.1886

Die Freilassung des Apothekers Speichert-Bomst ist zwar mit Rücksicht auf die zweifelhafte Beurtheilung in Folge der Sonnenschein’schen Analyse, vom Minister des Innern und der Justiz angeordnet worden, wie die B.Z. erfährt, aber vorläufig nur auf 6 Wochen wegen des zerrütteten Gesundheitszustandes des Speichert

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Bericht Berliner Tageblatt und Handels-Zeitung, Morgen Ausgabe – Samstag 11.12.1886

Wissenschaft und Strafrechtspflege. – Unsere raschlebige Gegenwart, die, wie weiland Heinrich Percy täglich ein Dutzend Schotten zum Frühstück verspeiste, so für gewöhnlich jeden Tag eine Handvoll sensationeller Ereignisse verschlingt, ohne sich dabei sonderlich viel aufzuhalten, wird doch zuweilen aus dieser Gleichgiltigkeit ein wenig unsanft aufgerüttelt.

Freilich muß es schon alsdann etwas ganz Besonderes sein !

Solch etwas ganz Besonderes ist aber die Angelegenheit Speichert, der des Gattenmordes bezichtigt, von den Geschworenen für schuldig befunden und zum Tode verurtheilt, später zu lebenslänglicher Zuchthausstrafe begnadigt worden ist.

Der Unglückliche hat vom ersten Augenblick an seine Unschuld betheuert, er ist während seiner nunmehr dreizehnjährigen Zuchthausstrafe bei der Behauptung seiner Unschuld verblieben. Er sowohl wie seine Angehörigen haben es an Anstrengungen, eine Wiederaufnahme des Verfahrens zu ermöglichen, nicht fehlen lassen. Alles war vergeblich.

Bis endlich im vergangenen Jahre die entsetzliche Angelegenheit in die Hände des bekannten Breslauer Chemikers Loewig gelangt und derselbe, durch einen „Zufall“ – wie er es selbst ausdrückt – veranlaßt wurde, das gesamte Aktenmaterial einer erneuerten gründlichen Prüfung zu unterwerfen. Das Ergebniß dieser mit einem erstaunlichen Aufwande von Scharfsinn durchgeführten Prüfung war bekanntlich die vorläufige Entlassung des seit dreizehn Jahren im Zuchthaus gefangen gehaltenen Apothekers Speichert, denn es ist nach der Ansicht Loewigs kein Zweifel, daß hier die Verurtheilung eines Unschuldigen vorliegt. Allein dieser Umstand einer unrechten Verurtheilung an sich ist es nicht, welcher diesem Falle Speichert eine so ungemein hohe Beachtung in den meisten Kreisen unseres Volkes verschafft hat. Vielmehr ist eine Anzahl anderer Momente hierbei mitwirkend, welche allerdings ganz dazu angethan sind, die schärfste Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, ja die berechtigtste Verwunderung zu erregen.

In dem Falle Speichert handelte es sich um die Bezichtigung einer beabsichtigten Arsenikvergiftung. Man beachte wohl, der des Verbrechens Bezichtigte war Apotheker. Die Leiche der Frau Speichert wird auf Veranlassung der Staatsanwaltschaft ausgegraben, einzelne Theile derselben (Magen, Eingeweide) werden untersucht, ebenso die Holzspähne im Sarge, die umgebenen Erden. Kurzum, es wird Alles auf das Peinlichste durch einen bewährten chemischen Sachverständigen untersucht. Man findet auf Grund der sorgfältigst ausgeführten Untersuchungen Spuren von Arsenik, die indessen nach den unbestrittenen und unbestreitbaren Ansichten aller Mediziner, Chemiker, Gerichtsärzte nicht einmal vermögend waren, ein ernsteres Unwohlsein hervorzurufen. Aber – die Haut der bei der Ausgrabung theilweise im Grundwasser liegend vorgefundenen Leiche war in ihrem ganzen Umfange pergamentartig hart, eingetrocknet, dunkelbraun, der Körper war in seinem Zusammenhange vollständig erhalten. Mit einem Worte – die Leiche war vollständig mumifiziert.

Um jedoch einen derartigen Mumifikationsprozeß hervorrufen zu können, dazu ist nach einer vielbewährten Erfahrung mindestens ein halbes Gramm Arsenik erforderlich. Von außen konnte diese Menge Arsenik nicht in die die Leiche eingedrungen sein, denn die ganze Umgebung war arsenikfrei. Mumifiziert war andererseits die Leiche, dieser Zustand wird aber durch Arsenik herbeigeführt, also ist die zur Mumifizierung der Leiche erforderliche Menge Arsenik bei Lebzeiten der Frau Speichert beigebracht worden. Daß aber etwa die Mumifikation der Leiche aus lokalen Ursachen durch die Verhältnisse auf dem Bomster Kirchhofe herbeigeführt sein könnte, daran ist ja nicht entfernt zu denken. In Bomst ist etwas Derartiges nie beobachtet worden. Wie sollte auch der gelbliche Sandboden jenes Friedhofes dazu kommen, auf Leichen eine mumifizierende Wirkung auszuüben! Zudem war der vermeintliche Giftmord im Mai geschehen, die Leiche hätte also in den darauf folgenden Sommermonaten unbedingt verwest sein müssen! All das ist indessen nicht eingetroffen! Die Leiche zeigt sich vielmehr vollständig mumifiziert, und diese Thatsache war somit hinreichend, die Geschworenen zur Fällung eines Todesurtheils zu veranlassen! Hier an diesem Punkte setzte nun der wackere, alte, gewissenhafte Forscher seine kritischen Hebel ein, um das ganze Gutachten der Sachverständigen in die Lüfte zu blasen und das Geschworenenurtheil als ein verfehltes nachzuweisen.

Nun ist zunächst gar nicht als erwiesen anzusehen, daß jede Arsenikvergiftung mit Nothwendigkeit solch eine Mumifikation einer Leiche zur Folge haben muß. Vielmehr verzeichnet die gerichtliche medizinische Literatur sehr viele Fälle, in denen ohne eine vorhergegangene Arsenikvergiftung eine Mumifikation eingetreten, während umgekehrt Leichenverwesungen trotz unbestreitbarer Arsenikvergiftungen vorhanden waren. Da nun aber eingestandener Maßen die in dem Falle Speichert vorgefundene Arsenikmenge so außerordentlich gering war, daß dieselbe nicht einmal genau bestimmt werden konnte, so ergibt sich die Frage von selbst, wie wohl das Geschworenenurtheil gelautet hätte, falls diese Mumifikation nicht vorgefunden worden wäre. Die wirklich nachgewiesene Menge von Arsenik war durchaus nicht hinreichend, um ein Menschendasein auch nur leichthin zu gefährden! In dem ganzen Beweisverfahren ist, wie Professor Loewig sehr richtig bemerkt, auch nicht ein einziger positiver Nachweis geführt, kraft dessen auf eine wirkliche Arsenikvergiftung geschlossen werden konnte. Immer wieder wird auf jene Mumifikation hingewiesen, als auf ein untrügliches Anzeichen dafür, daß dem betreffenden Organismus Arsenik und zwar in einer zur Hervorbringung des genannten Zustandes erforderlichen Menge von 0,5 Gramm eingeflößt gewesen sein müßte!

Auf die eine Frage, ob jede Arsenikvergiftung eine Mumifikation zur Folge haben müsse, ist entschieden mit Nein zu antworten.

Es bleibt also nur noch das Räthsel der Mumifikation jener Leiche im gelben Sande des Bomster Friedhofes zu lösen. Loewig erklärt diese räthselhafte Mumifikation auf die natürlichste Weise; einmal, indem er von unbestreitbaren allgemeinen chemischen Lehrsätzen ausgeht, und sodann, indem er dieselben gerade auf die lokalen Verhältnisse jenes Bomster Friedhofe anwendet. Die Leiche lag nämlich theilweise im Grundwasser. Der in das Grab hinein sich ergießende Sauerstoff – um dieses Beiwort zu gebrauchen – bildet aber durch die im Grundwasser stets vorhandenen organischen Bestandtheile Kohlensäure. Diese Kohlensäure ist indeß bekanntlich ein vortrefflicher Stoff, um die Verwesung zu verhindern; aus diesem Grunde bleiben Leichen in Torfmooren vollständig erhalten, vollständig mumifiziert, weil sie sich stets in einer Atmosphäre von Kohlensäure befinden und der Zutritt von Sauerstoff zur Leiche eben hierdurch verhindert wird. Aber außerdem war die Leiche der Frau Speichert in Stoffe eingelagert, die zu den fäulnißwidrigsten gehören und bei dem Mumifikationsprozeß in erster Linie in Rechnung gezogen werden müssen. Es sind diese die in den Sägespähnen enthaltenen Gerbstoffe, die sogenannten Gerbsäuren. Solch eine Mumifikation muß eintreten, wenn eine Leiche in einem Sarge bei Holzspähnen von der Fichte, der Birke, der Eiche, der Buche, der Pappel und noch anderen Holzarten liegt und der Sarg sich sodann mit Wasser füllt. Alsdann geht ein Auslaugungsprozeß vor sich und der ausgelaugte Gerbstoff verwandelt die Leiche in eine braune, lederartige Mumie. Im Grundwasser wird die Mumifizierung noch schneller erfolgen, als im Bachwasser. Alle diese Umstände vereinigen sich in dem unglückseligen Falle Speichert, um die Mumifikation der Leiche auf die natürlichste Weise zu erklären, ohne zu der schwachgestützten Annahme einer durch Arsenik hervorgerufenen Mumifikation seine Zuflucht zu nehmen, zumal ja das fragliche Gift weder in der Umhüllung der Leiche, noch in dieser selbst in genügender Menge vorgefunden worden ist.

Daß aber auf dem Bomster Friedhofe nie zuvor eine ähnliche Thatsache, wie diese Mumifikation, beobachtet wurde, läßt doch nur auf die dort selten oder nie zuvor nothwendig gewordene Leichenwiederausgrabung schließen – denn zu wissenschaftlichen Beobachtungen sind auf dem Friedhofe der genannten Stadt doch wahrhaftig keine Mumifikationsversuche angestellt worden.

Wenn aber dem so ist, woher kam dann die verhängnißvoll geringe Arsenikmenge in der Leiche? Hierauf antwortet der ebenso vorsichtige, wie scharfsinnige und gewissenhafte Loewig, daß diese Spuren von Arsenik gar nicht in der Leiche vorhanden waren, sondern erst durch das Untersuchungsmaterial des Chemikers hineingeschaftt sind. Und hiermit ist etwa kein Vorwurf gegen den die gerichtsärztliche Untersuchung ausführenden Chemiker ausgesprochen, in diesem Falle gegen einen vielerprobten Forscher. Es kann beispielshalber, trotz aller angewandten Vorsicht, eine Täuschung durch die Reagentien hervorgerufen werden, deren Reinheit eben einmal keine absolute gewesen. Um derartige fatale Möglichkeiten aber auszuschließen, müßten sämmtliche für gerichtliche Zwecke zu verwendenden Untersuchungsmaterialien von einer staatlichen Centralstelle aus geliefert werden, die eine ununterbrochene Prüfung der Materialien vorzunehmen hätte.

Daß für den Geschworenen sich hieraus immer wieder die Lehre ergibt, lieber zehn Schuldigscheinende freizusprechen, als möglicherweise einen Unschuldigen zu verurtheilen, das bedarf keines weiteren erklärenden Wortes.

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Bericht Berliner Börsen-Zeitung, Morgen Ausgabe – Dienstag 08.02.1887

In dem vielbesprochenen Mordproceß gegen den Apotheker Speichert aus Bomst dürfte die Entscheidung des Strafsenats des Oberlandesgerichts zu Posen über den neuen Wiederaufnahme-Antrag des Vertheidigers, des Rechtsanwalts Dr. Haillant in Bromberg, in Bälde bevorstehen.

Ueber das Resultat der nochmaligen Exhumierung der Leiche der verstorbenen Ehefrau des Angeklagten, deren Ermordung durch Vergiftung mit Arsenik demselben zur Last gelegt worden ist, haben wir s. Z. berichtet.

Die aus dem Grabe durch die zahlreiche Sachverständigen-Commission entnommenen Objecte wurden in der vorletzten December-Woche vom Posener Oberlandesgericht den Geh. Medicinalräthen Professoren Hoffmann und Rammelsberg zur chemischen Analyse übersandt, und diese hat nunmehr stattgefunden. Ueber das Resultat derselben vermögen wir selbstverständlich Sicheres nicht mitzutheilen, doch erscheint es nach verschiedenen Andeutungen nicht mehr zweifelhaft, daß die Situation für den bekanntlich wegen Krankheit aus der Straftanstalt zu Kronthal entlassenen Angeklagten sich äußerst günstig gestaltet hat.

Wie wir hören, hat sich der bedenkliche Zustand des Letzteren bei der außerordentlichen Pflege, die ihm seitens seiner Mutter und Geschwister zu Theil wird, gehoben und seine vollständige Genesung steht in Aussicht.

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Bericht Berliner Tageblatt und Handels-Zeitung, Morgen Ausgabe – Donnerstag 07.04.1887

In der Wiederaufnahme-Affaire Speichert-Bomst ist, wie bereits mitgetheilt, das Grab der Frau Speichert auf Anordnung des Oberlandesgerichts zu Posen vor einigen Tagen nochmals geöffnet und der Apotheker zu Bomst mit der Entnahme von Erde daraus betraut worden.

Dies geschieht, wie wir hören, zu dem Zwecke, um durch die chemischen Sachverständigen Geh. Räthe Professoren Hoffmann und Rammelsberg, welchen bisher nur Erde des Grabes über dem Sarge vorgelegen hat, auch den unter dem Sarge befindlichen Boden zur chemischen Untersuchung zu unterbreiten. In der erstgedachten Erde sollen Spuren von Arsen aufgefunden worden sein.

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Quellen soweit nicht direkt im Text oder in der Bildbeschreibung genannt: Deutsche Zeitungsportal (deutsche-digitale-bibliothek.de)