Nachstehender Reisebericht aus dem Jahr 1908 ist als Teilauszug – Kapitel 6 – entnommen aus dem im Jahr 1909 erschienenen „Führer durch das Westposener Wald- und Seengebiet“. Professor Karl Graeter beschreibt darin seine Wanderung mit seinem Reisegefährten Remus, welcher seine botanischen Kenntnisse einfließen ließ.
Der Autor verzichtete auf Quellenangaben. Leider sind daher einige Ausführungen nicht nachvollziehbar und nicht zu belegen, sodass die Ausführungen als persönliche Aussagen zu werten sind und nicht als historisches Material angesehen werden können.
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Ausschnitt Messtischblätter 3361-3561 der 6sten Etappe von Lewitz nach Birnbaum / http://mapy.amzp.pl
Der fünfte Tag sollte uns an einen der Glanzpunkte unserer Reise bringen, an das Kähmer Fließ. Wir nahmen Abschied von Lewitz, seinen freundlich im tiefen Tal gebetteten Häusern und seiner auf einem Hügel fast ausschließlich aus Feldsteinen erbauten schmucken Kirche, vor der eine alte mit Blüten übersäte Linde Schatten spendend ihre Zweige über die ebenfalls aus Feldsteinen erbaute Mauer ausstreckt. Durch einen wohlgepflegten Park, dessen schönster Schmuck seine hohen alten Bäume sind, gelangen wir in allmählichem Übergange in ein Buchenwäldchen und nach der Kleinen Mühle, die heute, ihrer ursprünglichen Bestimmung entzogen, einem pensionierten Offizier, einem Verwandten des Lewitzer Besitzers, als Buen retiro dient.
Bis zur Brand-Mühle erstreckt sich der schönste Naturpark; erst hier treffen wir wieder in der Nähe menschlicher Wohnungen Getreidefelder. Durch das Mühlengehöft gehen wir am Stalle vorbei, verfolgen einen Fußpfad und gelangen zu einer durch ihre Größe und Höhe imponierenden Rotbuche, die wir durch eine photographische Aufnahme unseren Reiseerinnerungen dauernd einverleiben. Auf der linken Seite des Fließes geht es wie im Gebirge bergauf und bergab durch hochrangende Kiefernstämme hindurch, an einem Dohnenstieg vorbei, wo üppig wachsende Farrenkräuter – wir merken die Nähe des Wassers – uns bis zur Brust reichen. Idyllisch schön liegt das Forsthaus Heidchen, wie Dornröschen in des Waldes tiefstem Schweigen vergraben.
Eine Brücke führt uns nach der Groß-Mühle, die von der Ansiedelungs-Kommission gekauft und bis auf 4 oder 5 Stellen schon aufgeteilt ist. Der Administrator des Gutes nimmt uns aufs liebenswürdigste auf, interessiert sich lebhaft für unseren Plan, unsere schöne Westposener Wald- und Seelandschaft dem Fremdenverkehr zu erschließen, weist darauf hin, wie die Förster, Mühlenbesitzer und Ansiedler Sommerfrischler mit Vergnügen bei sich aufnehmen würden, und krönt sein freundliches Entgegenkommen damit, daß er anspannen läßt und in dreistündiger Fahrt uns alle sehenswürdigen Punkte – auch in den Seitentälern des Flusses – zeigt. Welche Waldespracht ! Welche Riesenbuchen ! Welche Höhen ! Wie tiefe Schluchten ! Es ist das Eigenartige einer charakteristischen Landschaft, daß man keine Einzelheiten beschreiben kann; alle zusammen ergeben erst ein Bild; wie bei der Beschreibung der Hauländereien ergeht es uns auch hier im Kähmer Fließ. Ich kann hier nur auf zwei charakteristische Merkmale aufmerksam machen, die sich beständig wiederholen. Das eine ist das parkartige Aussehen der üppigen Wiesen, die sich am Fuße der über 20 Meter hoch über ihnen sich erhebenden Anhöhen hinziehen, einzelne Erlen oder kleiner Erlengruppen breiten ihre Zweige über das kräftige Dunkelgrün der Matten aus, durch die in starkem Gefälle das Mühlenfließ sich dahin schlängelt. Und das zweite ist das inselartige Auftreten sandiger Flächen, die von kleinen Erlenhainen bedeckt sind. Der Mittelpunkt aller dieser Naturschönheit ist das Forsthaus Papiermühle, sein schönster Punkt Klein-Münche, wo über dem Schlosse der Ziegenberg bis zu einer Höhe von 111 Metern ansteigt. Der Wanderer, der dieses Ziel erreichen will, muß sich auf der linken, östlichen Seite des Fließes halten, an der entlang ein Fahrweg führt.
Auf unserer Fahrt trafen wir einen Bauern, der auf seinem Wagen Holz fuhr. Es war ein russischer Rückwanderer, der, ursprünglich als Einlieger beschäftigt, sich durch seinen und der seinen Fleiß soviel erübrigte, daß er ein kleines Grundstück pachten konnte, das er sicherlich bei weiterem Vorwärtsstreben auch einst als Eigentum erwerben wird. Also auch Erfreuliches hören wir von unseren Landsleuten, die in ihre alte Heimat wiedergekehrt sind.
Unser freundlicher Geleitsmann brachte uns noch an den Weg nach Glozewo, und wir schieden mit herzlichem Danke; denn wir hatten durch ihn so manches Schöne gesehen, das wir sonst nicht zu Gesicht bekommen hätten.
Auf einem ziemlich langweiligen Wege erreichten wir das um einen großen Teich gelagerte Glozewo und kehrten hier im Gasthause „Zum Deutschen Kaiser“ ein. Trotz dieses anerkennenswerten Namens war alles polnisch, wenn die Wirtsleute sich auch deutsch mit uns verständigen konnten. In den Gasthäusern wurden wir oft mit Mißtrauen empfangen. Die Leute wußten nicht recht, was sie mit uns machen sollten. Meistens hielten sie uns wegen des Stativs, das ich trug, für reisende Berufsphotographen. So ssagte denn auch die Wirtin zu Glozewo zu uns: „Womit machen Sie? Werren Sie gestern hier gewesen, hätten Sie gut Geschäft gemacht!“ Etwas Warmes gab es natürlich nicht zu essen; so mußte der fürsorglich im Rucksack mitgenommene Vorrat herhalten.
Wir beschlossen, nicht unmittelbar nach Gorzyn, das allgemeiner als Sehenswürdigkeit bekannt ist, zu wandern, sondern in das Dormowoer Fließ einzubiegen, das sich parallel dem Kähmer Fließ hinzieht und seinen Abschluß im Gorzyner See findet. An der Schmiede fragten wir uns zurecht. Rechts sahen wir die drei Kuppen von Proppers Bergen, die trotz ihrer Höhe (106 Meter) bis oben angebaut sind. Ein Wegweiser deutete die Richtung nach der Neueren (Oberen) und der Alten (Unteren) Mühle an. Wir schlugen den letzteren Weg ein der uns über Berg und Tal führte. Ein großer, zur Hälfte gesprengter Feldstein redete stumm von jenen uralten Zeiten, als hier gewaltige Gletschermassen die Erdoberfläche bedeckten. Plötzlich änderte sich die Eintönigkeit des Landschaftsbildes: im Norden und Westen blaue bewaldete Höhen, im Westen glänzt der Spiegel eines Sees auf. Das unermeßliche Schweigen unterbrechen nur der Lerchen jubelnde Stimmen. Links öffnet sich eine tiefe, mit Bäumen bestandene Schlucht; der Weg biegt rechts ab und führt uns unserem Ziele, der Alten Mühle, zu, die nach einer Feuersbrunst ganz neu im Rohbau aufgeführt ist. Der Besitzer weist uns zurecht. An dem seeartig erweiterten, tief in die Hügel eingebetteten Mühlenteiche vorüber wandern wir weiter.
Kiefern- und Birkenwald umfangen uns, eine üppig strotzende, vom Fließe bewässerte Wiese dehnt sich rechts von uns aus. Auch hier treffen wir dieselbe Physiognomie der Landschaft wie im Kähmer Fließe, nur in verkleinertem Maßstabe, an: parkartig von einzelnen Bäumen unterbrochene Wiesen, kleinere, inselartige auf höheren Stellen aus ihnen auftauchende Kieferngruppen. An einer von links kommenden Quelle gedeihen in voller Lebenslust wilde Balsaminen (Rühr mich nicht an). Dieses Landschaftsbild begleitet uns, bis wir die Chaussee und bald darauf die Heinrichsmühle erreicht haben. Einen zu dieser gehörenden Park, der sich zwischen der Chaussee und dem Gorzyner See ausdehnt, zu besichtigen wird uns freundlich gestattet. Es ist kein Kunstprodukt, die Natur hat hier frei walten dürfen.
Da die Zeit drängte, beschlossen wir, nicht den ganzen Gorzyner See zu umwandern, sondern nur seine westliche Seite und uns dann nach Alt-Görtzig zu wenden. Wir gehen etwa 500 Schritte auf der Chaussee nach links und biegen dann in einen Weg ein, der durch den schönsten Wald führt; denn unter die Kiefern mischen sich hier nicht nur Fichten, sondern auch Laubbäume, wie Erlen, Birken und Weißbuchen, die dem Walde ein lebhafteres und freundlicheres Gepräge verleihen. Da, wo der Weg sandig wird, folgen wir einem Fußpfade, der uns in die Höhe von einem prachtvollen Aussichtspunkte geleitet, wo Tische und Bänke den müden Wanderer zum Ausruhen und zur Umschau einladen. Wie sehr viele Posener Seen enthält auch der Gorzyner eine Insel. Auf diese, die gerade in der Mitte des Sees liegt, fällt unser Blick. Sie ist vollständig mit Laubwald bedeckt, und um sie flutet dunkelgrün der See. Es läßt sich nicht leicht ein lieblicheres Bild denken als das, das sich hier unseren Augen bot. Dazu die lautlose Stille. Wenn die zahlreichen Sänger der Vogelwelt nicht gewesen wären, so hätte eine Stille wie des Todes Schweigen um uns geherrscht. Auf einer ungefähr 50 Stufen zählenden Treppe steigen wir zu dem Ufer des Sees hinab, wo sich uns dieselbe Aussicht wie bisher zeigt, nur tritt jetzt neben den Wipfeln der Bäume, die sich auf der Insel erheben, noch das weiße Schloß von Gorzyn hinzu. Auf einem prächtigen Promenadenweg, den Fichten, später Buchen umrahmen, schreiten wir an dem Gorzyner See entlang. Das liebliche Wald- und Seebild fesselt unser Auge und unser Herz so sehr, daß wir eine lange, lange Zeit uns an seinem Ufer niederlassen und dem leisen Anschlagen der Wellen und dem Flüstern des Rohres lauschen. Der Promenadenweg hört am Ende des Gorzyner Sees nicht auf, sondern geleitet uns noch weiter zu einem kleineren, namenlosen See und endlich zu dem Dorfsee, wo an den steilen Abhängen massenhaft die Waldrebe anzutreffen ist.
In Alt-Görzig hofften wir auch für unseren leiblichen Menschen sorgen zu können. Ein Wirtshaus war aber nicht vorhanden, und die Tür des Schulzenhauses war verschlossen, da alle Leute auf dem Felde mit der Roggenernte beschäftigt waren. Eine alte Frau erbarmte sich endlich unser und gab uns ein Glas Wasser. Wie prächtig mundete das ! Ein Stück Wurst und etwas Semmel aus unserem Reisevorrat stellte bald unsere Kräfte so weit her, daß wir unsern Weitermarsch nach Birnbaum fortsetzen konnten. Der Weg dorthin bietet wenig Interessantes; er steigt in dem hügeligen Gelände auf und ab, weite Getreidefelder dehnen sich zu beiden Seiten aus. Erst spät, da Birnbaum tief im Warthethal (nur 33 Meter über dem Normal-Nullpunkt) liegt, während die Höhen im Süd Westen der Stadt noch 64 Meter erreichen, wird uns die Stadt sichtbar, für deren patriotischen Geist der auf der Höhe vor der Stadt errichtete Bismarckturm spricht. Bevor wir die eigentliche Stadt betreten, müssen wir noch die beiden Vororte Birnbaums, Großdorf (1.400 Einwohner) und Lindenstadt (700 Einwohner) durchwandern. Lindenstadt hat als Geburtsort Karl Busses ein besondere Interesse für uns Posener. Hier befindet sich auch das Landrathsamt des Kreises Birnbaum und eine eigene evangelische Kirche.
Wie wenige Städte der Provinz ist Birnbaum Sommerfrischlern zu empfehlen, da sich von hier recht nette Ausflüge nach dem großen Luttomer und dem Schrimmer See mit ihren steillen Buchenwaldungen, nach dem Kulmer See mit seinen Eichen und Buchen, in die Wartheniederung nach Merine und Waitze unternehmen lassen. Auch das Kähmer Fließ ist vom Bahnhof Pruschim und noch leichter von Lewitz (an der Bahnstrecke Birnbaum-Tirschtiegel) aus zu erreichen.
Die Stadt Birnbaum zählt 3.000 Einwohner, besitzt ein Amtsgericht, eine evangelische und eine katholische Kirche, eine Synagoge, eine Präparandenanstalt, eine Eisengießerei, eine Maschinen- und eine Tabakfabrik, eine große Dampfmühle und eine Bierbrauerei. In der Nähe sind Braunkohlengruben und Ziegelbrennereien.
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Quellen soweit nicht direkt im Text oder in der Bildbeschreibung genannt: 1) „Führer durch das Westposener Wald- und Seengebiet“ – Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz;