Die Geschichte eines Lotterielooses – 1892 – Berlin/Jablone

Landgericht Berlin – Ansichtskarte / Beispielbild

„Die Geschichte eines Lotterielooses lag einer eigenartigen Anklage wegen Betruges bzw. Beihilfe dazu zu Grunde, welche gestern (18. Juli 1892) vor der dritten Strafkammer des Landgerichts I. gegen den 19jährigen Arbeiter Hermann Schulz und dessen Vater, den Arbeiter Dienegott Schulz, verhandelt wurde.

Ein armer Weichensteller im Polnischen spielte im vorigen Herbst beim Loosehändler Heinze in Berlin ein Achtel eines Braunschweiger Loose. Seine Freude war groß, als Heinze im mittheilte, daß das Loos mit einem Gewinn von 30.000 Mark gezogen sei und auf seinen Theil somit 3.156 Mark entfielen.

Der glückliche Gewinner sandte Loos nebst Gewinnliste in einem eingeschriebenen Brief an seinen hier (Berlin) wohnenden Bruder, den Hausverwalter Schulz, und bat denselben, das Geld bei Heinze zu erheben.

Da der Absender nicht wußte, daß sein Bruder die Stellung eines Hausverwalters bekleidete, so lautete die Adresse des eingeschriebenen Briefes einfach: Herrn Hermann Schulz in Berlin, Blücherstraße 10.

Nun wohnte im Hause Blücherstraße 10 zu damaliger Zeit bei dem Arbeiter Kornowski der erste Angeklagte, der vor kurzer Zeit aus dem Dorfe Jablone bei Neutomischel nach Berlin gekommen war.

Er erhielt aus seiner Heimath mehrfach Briefe, die ebenfalls an „Herrn Hermann Schulz, Blücherstraße 10“ adressiert waren. Der Briefträger gab auch den eingeschriebenen Brief an den Angeklagten ab.

Als dieser von dem Inhalte Kenntniß genommen, erhob er bei Heinze das Geld und reiste sofort nach seiner Heimath ab. Er will den Seinen erzählt haben, daß er das Geld in der „Sklavenlotterie“ gewonnen habe.

In dem kleinen polnischen Dorfe herrschte großer Jubel, der Vater des angeblichen Gewinners wußte sich vor Freude nicht zu fassen, mit vollen Händen theilte er das ihm von seinem Sohne gegebene Geld aus, und nach einigen Wochen, als der Betrug entdeckt worden war, waren nur noch 800 Mark vorhanden, die dem rechtmäßigen Gewinner ausgehändigt worden sind.

Vater und Sohn mußten unter polizeilicher Begleitung die Reise nach Berlin antreten.

Im gestrigen Termine bestritten beide ihre Schuld. Hermann Schulz will bei einem Cigarrenhändler ein Loos für 1 Mk. 50 Pf. Gekauft und sich darüber gar keine Rechenschaft abgelegt haben, daß das ihm von auswärts gesandte Loos unmöglich mit dem von ihm identisch sein konnte.

Der Staatsanwalt hielt sowohl Vater wie Sohn durch die Beweisaufnahme für zweifellos überführt und beantragte gegen den Ersteren drei, gegen den Letzteren neun Monate Gefängniß.

Der Gerichtshof erkannte auf Freisprechung beider Angeklagten. Allerdings sei es dem Gerichtshofe schwer geworden, dies Urtheil mit Bezug auf den Angeklagten Hermann Schulz zu fällen. Indessen besitze derselbe eine so geringe Intelligenz, daß er weder lesen noch schreiben könne und sein Wirth ihm die an ihn anlangenden Briefe vorlesen mußte. Bei der Aufregung, von der sein Gehirn durch das unverhoffte Glück ergriffen wurde, könne es wohl sein, daß ihm von dem übrigen Inhalte des Briefes nicht im Gedächtnisse geblieben sei. Aus denselben Gründen sei der Vater freizusprechen.

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Quellen soweit nicht direkt im Text oder in der Bildbeschreibung genannt: Berliner Tageblatt und Handels-Zeitung, Morgen-Ausgabe, Dienstag, 19.07.1892 – Deutsche Zeitungsportal (deutsche-digitale-bibliothek.de)