Diebstahl und Mord in Boruy 1908 – Der Prozess 1909 / Teil 2

Die alte Chaussee von Neu Tomysl nach Boruy - Karte: Wojtek Szkudlarski

Die alte Chaussee von Neu Tomysl nach Boruy – Karte: Wojtek Szkudlarski

Hier nun die Berichterstattung des vor dem Schwurgericht zu Meseritz geführten Prozesses:

1909-04-30 Meseritz (Schwurgericht)

Am Montag begann die Verhandlung gegen die Eigentümerfrau Minna Jaekel, geb. Rau, aus Neuborui, die beschuldigt war, der in einem einsamen Gehöfte wohnhaften unverehelichten Juliane Herkt am 17. November d. Js. 1908 etwa 40 Mark gestohlen zu haben.

Seit dem 24. Dez. 1908 befindet sich die Angeklagte in Untersuchungshaft, sie ist 31 Jahre alt, seit 8 Jahren verheiratet und Mutter eines 6 und eines 1 jährigen Kindes. Die sechsjährige Ella war als Zeugin anwesend. Die Angeklagte besitzt mit ihrem Manne eine 10 Morgen große Wirtschaft. Ihr Haus ist 350 m von dem der ermordeten Herkt entfernt. Die letztere wohnte in einem einzeln liegenden Gehöfte, sie wurde dort am 20. Dezember von dem Ausgedinger Bensch tot aufgefunden.

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Der Verdacht der Täterschaft richtete sich aus verschiedenen Gründen alsbald auf die Jaekel.

Verstärkt wurde derselbe noch durch das Verhalten des Polizeihundes Prinz. Dieser hatte die Fährte von der Wohnung der Ermordeten aus bis in diejenige der Angeklagten aufgenommen. Bei der bloßen Aufnahme der Witterung in der Wohnung der H. war es dem Hunde nicht möglich, die Spur zu finden. Beim dritten Versuch hielt man ihm einen stark mit Petroleum getränkten und mit Brandgeruch behafteten Lappen vor. Dies war von Erfolg. Der Hund schlug erst verschiedene Wege durch den Kiefernwald ein, lief über Hopfendämme, quer über teilweise bestellten Acker und dann direkt nach dem Hause der Angeklagten.

An dem Hause angelangt, erwartete der Hund vor der verschlossenen Stubentür seinen Herrn. Als ihm geöffnet worden war, blieb er vor der Bank stehen, auf der die bereits beschlagnahmte Jacke gelegen hatte. Schließlich lief er an das Bett der Angeklagten, hier hatte die Spur ein Ende. Daß der Hund die im Zimmer anwesende Frau Jaekel nicht selbst stellt, erklärte der Beamte damit, daß sie andere Kleider anhatte und der Hund allein dem Brand- und Petroleumgeruch nachgegangen wäre, nicht etwa der persönlichen Witterung der Frau, die ihm gar nicht bekannt war. Daß der Hund die richtige Spur verfolgte, erkannte der Führer an der Gangart des Hundes.

Nach Verlesung des Anklagebeschlusses beantwortet die Jaekel die Frage des Vorsitzenden, ob sie den Diebstahl ausgeführt, mit ja, den Mord aber bestreitet sie auf das entschiedenste ab.

Die Ermordete, die der Volksmund „Jule“ nannte, ernährte sich, da sie oft arbeitsunfähig war, durch Betteln. Die Almosen, die die Herkt von den Einwohnern erhielt, scheinen ziemlich reich geflossen zu sein, denn sie hatte der Angeklagten anvertraut, daß sie 42 Mk. in der Nähe des Ofens versteckt habe. Da die Jaekel für Brot und Strümpfe 1,40 Mk. für die Herkt ausgelegt, diese aber trotz wiederholter Mahnungen nicht bekommen konnte, so hat sie sich nach ihren Aussagen am 17. Nov. 1908 in die Wohnung der H. geschlichen und ihr die 42 Mk., die in einem Lederbeutel sich befanden, gestohlen.

Ueber die Ausführung des Diebstahls macht die J. mehrfach wechselnde Angaben.

Katasterkarte/Ausschnitt 3762 Neu Borui - Quelle: http://mapy.amzp.pl/tk25.cgi?23,48,60,80

Katasterkarte/Ausschnitt 3762 Neu Borui – Quelle: http://mapy.amzp.pl/tk25.cgi?23,48,60,80

Die Angeklagte erzählte, sie habe der Jule, als diese wieder einmal zu ihr gekommen wäre, den Beutel mit 8 Mk. in die Tasche gesteckt. Die Verstorbene hat aber zu einem Zeugen geäußert, der Beutel sei eines Abends mit Scherben gefüllt in die Stube geflogen. Zur selben Zeit wurde auch ein zerschlagenes Fenster bemerkt, sodaß die Aussage der H. annehmbar erscheint. Die anderen 34 Mk. will die Jakel für Einkäufe verwendet haben. Unter anderem kaufte sie beim Kaufmann Rudolf Markus in Neutomischel eine Stola für 10 Mk. Von ihrem Ehemann hat die Angeklagte bei seinem Fortgange auf Außenarbeit 20 Mk. und später noch 40 Mk. erhalten. Aus dem Ertrag der kleinen Wirtschaft hat sie den übrigen Lebensunterhalt bestritten. Die Stola hätte sie nicht gekauft, wenn sie das gestohlene Geld nicht gehabt hätte, sagte sie selbst aus.

Ihrem Manne will sie die Geschichte des Diebstahls gleich nach seiner Ankunft erzählt haben. Es stellt sich jedoch bei seiner Vernehmung heraus, daß sie ihm nicht weiter erzählt hat, als daß sie des Diebstahls verdächtigt worden war, aus dem Termin sei aber nichts geworden. Er selbst hat nach ihrer Erzählung nicht den geringsten Verdacht gehegt, da er gar keine Ursache hatte, anzunehmen, daß seine Frau einen Diebstahl begehen könnte.

Auf die weiteren Vorkommnisse äußerte sich die J., daß sie der H., weil diese Ungeziefer an sich gehabt haben soll, verbot, ihre Wohnung zu betreten und ihr zur Vertreibung desselben etwas Petroleum in einer oben abgeschlagenen Flasche schenkte. Da die Frau ihrer Aufforderung, die Wohnung zu verlassen, nicht nachkam, habe sie, als beim Aufrühren des Feuers eine Kohle aus dem Herd fiel, diese auf das Kleid der Herkt geworden, ihr ferner einen brennenden Zigarrenstummel in die Tasche gesteckt und ihr den Rock mit Benzin begossen. Sie hätte damit erreichen wollen, daß H. nach Hause gehen und sich dort das Kleid versengen sollte. Ein andermal sagte sie, die H. hätte sich die Finger versengen sollen. Als am Sonntage darauf der Gendarm in die Wohnung kam und ihr erzählte, daß die Herkt tot aufgefunden worden sei, habe sie sich Gedanken gemacht, daß der Tod durch ihren Schabernack verursacht sein könnte. Am Tage nach der Zigarrenstummelaffäre ist die Jule jedoch noch von anderen Leuten sehen worden.

Einige wichtige Punkte seien noch aus der Zeugenvernehmung wiedergegeben.

Der Gendarm, der ihr die Nachricht vom Tode der H. machte, von dem Verdacht gegen sie aber nichts merken ließ, bekundet, daß sie ein völlig gleichgültiges Wesen an den Tag legte. Sie äußerte hierbei, die H. längere Zeit schon nicht mehr gesehen zu haben. Dem Gendarmeriewachtmeister Schütz und dem Stadtwachtmeister Schubert gegenüber hat sie die Befürchtung ausgesprochen, daß sie wohl hingerichtet werden würde. Als man ihr riet, die Wahrheit zu sagen, um dadurch den Kopf zu behalten, steckte sie heimlich eine Schachtel Streichhölzer zu sich. Dem Gendarmen entging dies jedoch nicht. Sie gab an, daß sie sich damit hätte das Leben nehmen wollen.

Zu einem Transporteur, der sie nach Meseritz brachte, äußerte sie: „So grob wollte ich es nicht machen, aber sie hat mich des Diebstahls beschuldigt. Legen Sie ein gutes Wort für mich ein. Wenn ich nur nicht geköpft werde“. Die letzten Worte bestreitet die J., doch bleibt der Transporteuer bei seiner Aussage. Sie hat auch ferner geäußert, die Kinder werden eine andere Mutter bekommen. Dieses will sie gesagt haben, weil sie sich mit Selbstmordgedanken trug.

Sehr belastend sind die Aussagen der Zeugin Preschel, mit der die Angeklagte während ihrer Untersuchungshaft im Gefängnis zusammen war. Die Preschel sagte aus, die Angeklagte habe sie gefragt, ob sie nicht wisse, wie die Sache stände. Dabei habe sie, die Zeugin, die Befürchtung ausgesprochen, daß wenn festgestellt würde, daß die H. erwürgt ist, die Sache schlecht für sie stände. Außerdem habe die Jaekel die Zeugin gebeten, ihr behilflich zu sein und als Zeugin auszusagen, daß der Knecht Przybyla die H. umgebracht habe. Für diese Aussage wollte sie ihr 300 Mk. Entschädigung geben. Die Aussagen der Preschel bezeichnet die Angeklagte als erfunden. Im Gegenteil, die P. habe sich ihr als Zeugin erboten, wenn sie ihr 900 Mk. Entschädigung geben würde. In diesem Falle wollte die Zeugin aussagen, daß zu der Zeit der Auffing der Leiche Zigeuner in der Neu Boruier Gegend gewesen sind, die den Mord begangen haben. Diese Beschuldigung weist die Zeugin entrüstet als Lüge zurück und gibt an, die Angeklagte hätte das Ansinnen an sie gerichtet, sie solle eine Anzeige machen, wonach Przybyla sie angefallen, gewürgt und um Herausgabe von Geld aufgefordert habe, dabei habe er gesagt, er würde es mit ihr ebenso machen wie mit der Jule.

Zu einer anderen Mitgefangenen hat die Jaekel geäußert, die Preschel habe ihr ihre Hilfe angeboten.

Hiergegen sagt die Gefangenenaufseherin Schulz aus, die Preschel habe ihr erzählt, daß die Jaekel das Ansinnen an sie gerichtet hätte, wegen des Przybyla einen Brief zu schreiben, und daß sie die Aeußerung getan hätte, sie habe die Jule gewürgt, was macht der Mensch nicht, wenn er in Wut ist. Da die Glaubhaftigkeit der Zeugin Preschel, die nach versuchten Ausweisen zugeben mußte, sechsmal vorbestraft zu sein, darunter fünfmal wegen Diebstahl, vom Verteidiger Justizrat Urbach sehr angezweifelt wurde, machte sich am Dienstag mittag die Vorladung neuer Zeugen nötig, die Verhandlung wurde deshalb nach Vernehmung der Sachverständigen vertagt.

Nach dem Leichenbefund, den Kreisarzt Dr. Buddee schilderte, ist der Tod der H. durch Verbrennung und gleichzeitig durch Erstickung eingetreten. Der Körper war zum großen Teil mit Brandflecken behaftet. Mit dem Gesicht nach unten liegend wurde sie aufgefunden, die rechte Gesichtshälfte war flachgedrückt, ob durch längeres Liegen oder durch äußere Gewalt war nicht festzustellen. Ueberaus auffallend war, daß sich im Gesicht Verletzungen vorfanden, in die schwarze Erdteile hineingedrückt waren.

Mittwoch wurde zunächst die letzte Zeugin Stark vernommen. Dieser hatte die J. die Petroleumgeschichte erzählt.

Darauf wurden 2 Schuldfragen festgestellt, eine wegen Diebstahls, eine wegen Mordes.

Staatsanwalt Dr. Siebert kam in seinen Ausführungen zu dem Schluß, daß die Angeklagte des Mordes schuldig sei. Ihr Verteidiger Justizrat Urbach gab der Ueberzeugung Ausdruck, es liege weder ein Mord vor, denn die Herkt könne ebenso gut einem Unfall erlegen sein, noch sei, falls wirklich ein Mord in Frage käme, der Beweis der Täterschaft schlüssig geführt. Er meine, daß der Indizienbeweis so viele Lücken enthalte, daß man nicht mit unbedingter Gewißheit sagen könne, seine Klientin sie die Mörderin.

Der Spruch der Geschworenen lautete auf schuldig des Diebstahls und nicht schuldig des Mordes. Diesem Wahrspruch gemäß lautete das Urteil auf drei Monate Gefängnis wegen einfachen Diebstahls.

Die Angeklagte wurde aus der Haft entlassen.

Landschaft bei Nowa Boruja - Bild EA

Landschaft bei Nowa Boruja – Bild EA

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Quellen: Großpolnische digitale Bibliothek Poznan (http://www.wbc.poznan.pl/dlibra) – “Amtliches Kreis-Blatt für den Kreis Neutomischel” 1908/1909 Artikel-Auszüge