Eine Mordnacht in einem Abbau bei Sontop – 1858 – Teil 3

Was bisher geschah: Die Witwe Lüdtke aus einem Abbau bei Sontop zeigt beim Schulzen Hoffmann aus Sontop an, dass ihr Sohn Robert seinen Onkel – den Gottlieb Lüdtke – und seinen Bruder – den Eduard Lüdke – in der Nähe des Wohnhauses in einem fast ausgetrockneten Wasserloch aufgefunden habe. Beide wiesen eine durchschnittene Kehle auf – einwandfrei eine Mordtat (Ende Teil 1). Die Untersuchungen werden aufgenommen, es handelt sich. Die Witwe Lüdke und ihre Tochter Ernestine werden verhaftet (Ende Teil 2).

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Wilhelm Girndt war 30 Jahre alt und der Sohn eines Bauern aus Neu Boruy, einer sogenannten Hauländerei (deutsche Kolonie), zwei Meilen von Sontop. Sein Vater hatte wegen Diebstahls oftmals Strafe erlitten, die Wirtschaft musste noch bei seinen Lebzeiten Schulden halber gerichtlich verkauft werden. Wilhelm Girndt und seine Geschwister waren fast ohne Erziehung aufgewachsen; insbesondere hatte ersterer die Schule und den Religionsunterricht sehr unregelmäßig besucht und schon im 17. Lebensjahre mit drei gewaltsamen Diebstählen die Bahn des Verbrechens betreten. Im Jahre 1847 aus dem Zuchthause entlassen, verübte er 1848 abermals einen Diebstahl mittels Einbruchs; nach verbüßter zweijähriger Zuchthausstrafe diente er kurze Zeit als Knecht, schloss sich dann wieder einer Diebesbande an und wurde schon 1852 zum fünften Mal wegen Diebstahls zu Zuchthausstrafe verurteilt. Dasselbe Schicksal ereilte ihn im Jahre 1855 von neuem. Im Juli 1857 entlassen, wurde er wiederholt wegen Landstreichens verurteilt und bis zum Februar 1858 in einer Korrektionsanstalt untergebracht. Kaum auf freien Fuß gesetzt, ward er wegen Verletzung der ihm durch die Stellung unter Polizeiaufsicht aufgelegten Beschränkungen durch das Kreisgericht zu Wollstein mit vierwöchentlichem Gefängnis steckbrieflich verfolgt.

Ganz ähnlich ist die Lebensgeschichte des Raschke. Er war 26 Jahre alt und zuerst 1851 wegen einfachen, dann noch in demselben Jahre wegen schwereren Diebstahls, 1854 wegen Unterschlagung und wegen zweier einfacher Diebstähle, 1857 wegen Landstreichens verurteilt worden. Wegen des letzteren Vergehens wurde er in einer Korrektionsanstalt untergebracht und erst am 18. Juni in seine Heimat Rackwitz entlassen.

In der achtzehnjährigen, wegen Diebstahls bereits fünfmal bestraften Ernestine Stankowska hatten Girndt und Raschke eine würdige Genossin gefunden.

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Inzwischen erfolgte am 25. Juni die gerichtliche Öffnung der Leiche des Gottlieb Lüdtke. Nach dem ganzen Befunde erklärten die Gerichtsärzte für unzweifelhaft, dass der Tod durch Verblutung aus der Schnittwunde am Halse, welche die bedeutendsten Blutgefäße, die rechte Kopfschlagader, die äußere Antlitzschlagader und die rechte Drosselader vollständig durchschnitten hatte, erfolgt sei und dass der Verstorbene sich diese Verletzungen nicht mit eigener Hand zugefügt haben könne. Weiterhin sprachen sich die Sachverständigen dahin aus:

„Erwägt man, dass die Durchschneidung des Halses nur bei stark nach hinten zurückgebogenem und in dieser Lage fixiertem Kopfe und dadurch angespannten Weichteilen ausgeführt werden konnte, welche Annahme durch die hohe Lage der Wunde am Halse und die Beschaffenheit der überall scharfen, gleichmäßigen, nirgends gezackten Wundränder bestätigt wird, so ergibt sich, dass zur Vollendung der Tat mindestens zwei Personen erforderlich sein mussten. Denn es ist nicht denkbar, dass eine einzelne Person einen gesunden kräftigen Mann hätte überwältigen und in die Lage versetzen können, in welcher allein es möglich war, ihm die Schnittwunde beizubringen. Letzteres konnte nur unter Mitwirkung einer zweiten Person, welche den Kopf stark nach hinten hinübergebogen hielt, gelingen, während die erster, an der linken Seite des Ermordeten kniend, das Messer in die rechte Seite des Halses einsetzte und den Schnitt in einem einzigen kräftigen Zuge vollführte.

„Diese lediglich auf den anatomischen Befund gestützte Folgerung wird durch folgenden Umstand unterstützt: Die Ermordung des Obduzierten geschah auf dem Fußsteige, welcher von dem Lüdtke’schen Hause nach der Wiese führt, ungefähr 22 Schritt von dem Wasserloche, an der Stelle, wo der Schulze Hoffmann die große Blutlache gesehen hatte. Der Leichnam wurde aber nicht an dieser Stelle, sondern in dem Wasserloche gefunden, er musste also kurz nach der Tat dahin gebracht worden sein. Nun waren aber auf dem Wege von der Blutlache bis zum Wasserloche keine Blutspuren vorhanden. Hieraus folgt die Mitwirkung einer zweiten Person, wenigstens bei dem Transport der Leiche. Nur wenn der Leichnam von zwei Personen, und zwar zugleich am Kopf und an den Füssen, aufgehoben und fortgeschleppt worden ist, war es möglich, dass die Wunde auf dem Transport kein Blut absonderte. Denn nur wenn die Leiche auf diese Weise fortgeschafft wurde, konnten sich die weit auseinanderklaffenden Wundlefzen fest aneinanderlegen, die Schnittflächen der Blutgefäße sich aufeinanderschließen und auf diese Weise das Ausfließen des Blutes auf dem Transport verhindert werden. Der Einwurf, dass der Körper schon am Orte der Tat vollständig ausgeblutet haben könne, wir dadurch schlagend widerlegt, dass der Erdboden in dem Wasserloche selbst gerade unter der Halswunde des Verstorbenen noch stark mit Blut getränkt angetroffen wurde.“

Am folgenden Tage, 26. Juni, erfolgt die Sektion der Leiche des Eduard Lüdtke. Die äußere Besichtigung zeigte, außer der früher erwähnten Schnittwunde, eine sogenannte Strangulationsmarke, welche auf der linken Seite des Halses beginnend quer über den unteren Teil des Kehlkopfes nach rechts und etwas nach oben verlief, in der Mitte des Nackens sich verlor und eine ziemlich gleichmäßige Breite von einem halben Zoll hatte. Die Gerichtsärzte erachteten jedoch, dass Symptome der Erstickung nicht vorhanden wären, und dass mithin der Tod nicht durch Erdrosselung, sondern lediglich durch Verblutung erfolgt sein. Auch hier waren die Luftröhre, die linke äußere Kopfschlagader und die linke äußere Drosselvene vollständig durchschnitten. Der Verstorbene war von ziemlich schwächlicher Konstitution und aller Wahrscheinlichkeit nach durch den stattgehabten Versuch der Erdrosselung betäubt worden. Die Sachverständigen hielten es daher für möglich, dass dieser Mord von einer Person allein verübt worden sein könnte. Früher, als man es erwartete, fanden diese aus dem Leichenbefunde gezogenen Schlüsse ihre Bestätigung.

Noch während der Sektion wurden der Tagearbeiter Ferdinand Raschke und die ledige Ernestine Stankowska in einem nahen Walde aufgegriffen und von der Gendarmerie dem Gericht vorgeführt. Robert Lüdtke erkannte in Raschke den Mann, der in Gesellschaft des Wilhelm Girndt am Tage vor dem Morde bei seiner Mutter gewesen war, und Weber versicherte, dass die Abdrücke von den Stiefeln des Raschke mit den in der Nähe seines Ziegenstalles gefundenen Fußspuren genau übereinstimmten. Raschke aber leugnete, jemals in Sontop gewesen zu sein, er betrachtete den Leichnam an den er geführt wurde, mit einer gewissen Neugier und völlig ruhig und versicherte, er habe weder den Ermordeten noch die Witwe Lüdtke jemals gesehen. Dagegen gab er seine Bekanntschaft mit Wilhelm Girndt zu. Er hatte ihn nach seiner Angabe etwa sechs Tage vor dem Morde einmal in der Gegend von Bentschen (etwa drei Meilen von Sontop) getroffen, sich aber von ihm entfernt, weil er erfahren, dass Girndt steckbrieflich verfolgt werde. Zum zweiten Mal wollte er am 25. Juni dem Girndt und der ihm bis dahin unbekannten Ernestine Stankowska in einem etwa zwei Meilen von Sontop gelegenen Walde begegnet sein. Sie waren ein Stück zusammen gegangen, dann hatte sich Girndt von ihnen getrennt, und bald darauf waren sie verhaftet worden. Einige an seinem Hemd vorgefundene Blutflecke rührten nach seiner Versicherung daher, dass er vor etwa fünf Tagen eine Ziege im Dorf Brandorf bei Bentschen gestohlen und geschlachtet hatte.

Raschke wurde abgeführt. Ernestine Stankowska, eine jene seltenen Erscheinungen, die sich in dem wüstesten Leben, unter Trunk, Unzucht und Verbrechen eine schlanke, zierliche Gestalt, eine fast kindliche Anmut der Gesichtszüge bewahren, hatte sich während des Verhörs so fern als möglich von Raschke gehalten und ihn fortwährend mit unverkennbarer Angst angesehen. Nach seiner Abführung atmete sie wie von einer schweren Last befreit hoch auf und verfiel dann in ein krampfhaftes Weinen. Als sie sich endlich beruhigt hatte, erstattete sie folgende Aussage, die wir mit geringen Abkürzungen wörtlich wiedergeben, weil sie die Ereignisse der Mordnacht mit schauerlicher Treue schildert:

„Ich habe mich seit Pfingsten bei meiner Tante Luise Lüdtke zu Sontop-Abbau aufgehalten. Meine Tante und ihr Ausgedinger Gottlieb Lüdtke lebten in großer Feindschaft, sie haben sich fast täglich gezankt und öfter sogar geschlagen, vor einigen Wochen so heftig, dass meine Tante Beulen und blaue Flecke hatte. Auch meine Cousine Ernestine vertrug sich schlecht mit dem Alten, und noch schlechter mit ihrem Bruder Eduard. Ich habe wiederholt gehört, dass meine Tante, wenn sie mit Gottlieb Lüdtke einen Zank gehabt hatte, äußerte: „Wenn doch jemand da wäre, der ihn beiseite brächte!“ Am 22. Juni kam Wilhelm Girndt in Begleitung des Ferdinand Raschke, der damals mir und meinen Verwandten völlig unbekannt war, in unsere Stube. Girndt erkundigt sich nach dem Befinden des Gottlieb Lüdtke auf dem Felde wäre, stand er auf und wollte ihm Schnaps und Brot bringen. Meine Tante warnte jedoch, Girndt sollte sich nicht zeigen, der Alte würde ihn angeben. Darauf äußerte Raschke: „Ich werde ihn schon kriegen, er soll uns nur anzeigen!“ Sie gingen nun beide zu dem Gottlieb Lüdtke auf das Feld und waren den ganzen Tag mit ihm in guter Freundschaft zusammen.

„Am 23. Juni vormittags bemerkte ich, dass meine Tante, Girndt und Raschke öfters heimlich miteinander sprachen, hörte auch den Namen Gottlieb häufig nennen. Sie schwiegen, sobald ich mich näherte und duldeten auch nicht, dass die Kinder zuhörten. Einmal kam ich dazu, als meine Tante den Raschke umarmte und ihn Schwiegersohn nannte. Auch taten Raschke und Ernestine Lüdtke zärtlich miteinander.“

„Gegen Abend schliffen Girndt und Raschke im Beisein der Witwe Lüdtke und ihrer Tochter Ernestine das Taschenmesser des Girndt auf einem Ziegelstück.“

„Meine Tante hatte vor dem Dunkelwerden noch zwei Quart (1 Quart =1,1365225704987 Liter) Schnaps aus dem Dorfe geholt, weil sie was zum Besten geben wollte. Girndt und Raschke tranken dem alten Lüdtke stark zu und gaben auch dem Eduard so viel Schnaps, dass er mit Anbruch der Dunkelheit ganz betrunken war. Mir kam es vor, als beabsichtigten sie, den alten Lüdtke und den Eduard betrunken zu machen. Der alte Lüdtke schien das selbst zu merken, denn er erklärte, dass er nicht mehr trinken sondern ein bisschen herausgehen wollte.“

Raschke erbot sich, ihn zu führen, auch Wilhelm Girndt stand auf und sagte: „Ich gehe, kommt nach.“  Wilhelm ging den Fußpfad nach der Wiese zu voraus. Raschke hatte den Lüdtke unterm Arm gefasst, er ging mit ihm erst einige mal in der Nähe des Hauses auf und ab und dann ebenfalls den Fußpfad entlang, der Wiese und der Wasserkeute zu. Als alle drei eine Weile weg waren, legte sich Eduard, dem Ernestine auf sein Verlangen auch nachher noch Schnaps gegeben, obgleich er schon völlig betrunken war, auf den Nachtkasten in der Stube der Lüdtke schlafen. Die Männer blieben lange fort; mich hatte ihr Verhalten am Nachmittage ängstlich gemacht, ich beschloss deshalb, zu meiner Tante Girndt nach Neutomysl zu gehen. Ernestine redete mir jedoch zu, ich sollte bleiben, und ich ließ mich dazu bestimmen. Als die Männer wohl eine Stunde fort waren, verließ ich die Stube, um sie zu suchen. Ich ging den Fußsteig hinunter der Wasserkeute zu. Ehe ich an das Wasserloch gekommen war, trat ich mit dem Fuße in etwas Nasses und sah im Mondschein auf dem Wege eine große Blutlache. Erschrocken kehrte ich um, ohne dass ich von den drei Männern etwas gesehen. Als ich zurückkam, standen Raschke und Girndt etwas abgesondert voneinander auf dem Hofe. Die Frauen waren in der Stube. Ich setzte mich zu ihnen, aber kaum war ich eingetreten, da sprang meine Tante Lüdtke auf und verließ die Stube. Ich stellte mich ans Fenster und sah ihr im hellen Mondschein nach. Sie ging, ohne mit den Männern draußen ein Wort zu sprechen, hinter dem Hause herum nach dem Walde zu. Die Ernestine Lüdtke legte sich inzwischen ins Bett. Gleich darauf traten die beiden Männer in die Stube, Raschke rüttelte den schlafenden Eduard und fordert ihn auf, mit ihm zu kommen. Er richtete den Schläfer in die Höhe, fasste ihn unter die Arme und brachte ihn hinaus. Wilhelm war vorausgegangen. Raschke führte den Eduard nicht nach der Lüdtke’schen Stube, sondern auf den Hof. Ich schlich ihnen leise nach und sah, dass Wilhelm den Fußpfad nach der Wasserkeute einschlug. Eduard lag ausgestreckt mit dem Rücken auf dem Boden. Raschke kniete auf ihm und würgte ihn mit einem schmalen Riemen, den er dem Knaben um den Hals geschlungen hatte. Ich hörte, wie Eduard mit gepresster erstickter Stimme stöhnte: „Ach Wilhelm , lass doch sein! Vater, du kannst nicht rein, ich habe den Drücker.“ Ich rief nun hinaus: „Wilhelm!“ Raschke aber befahl mir in barschem Tone, in die Stube zu geben. Ich gehorchte, trat aber ans Fenster, von wo aus man den ganzen Hof überblickt, und sah, dass Raschke den Knaben aufgehoben hatte, vor sich auf den Armen trug und mit ihm auf dem Fußpfade nach der Wasserkeute zuging. Girndt war nicht mehr sichtbar; einen Schrei habe ich nicht gehört. Als Girndt und Raschke mit dem Eduard eine Weile fort waren, kehrte meine Tante wieder ins Zimmer zurück und setzte sich, ohne zu sprechen, auf ihr Bett. Nach längerer Zeit, es konnte wohl schon Mitternacht sein, kam auch Girndt und etwas später Raschke in der Richtung von der Wiese her nach dem Hause zu. Sie gingen zu meiner Tante Lüdtke an das Bett und flüsterten mit ihr. Dann zählte sie jedem von ihnen Geld in die Hand; wie viel es war, weiß ich nicht; nach dem Klange schienen es mir Viergroschenstücke zu sein. Ich legte mich nun auf den Kasten in der Lüdtke’schen Stube schlafen; als mich Ernestine des Morgens weckte, waren beide Männer wieder in der Stube. Ich bemerkte an den Händen des Raschke Blut. An Girndt habe ich keine Blutspuren wahrgenommen. Dagegen aber, als Raschke seinen Rock auszog, gesehen, dass auch sein Hemd Blutflecken hatte. Girndt und Raschke sagten zu der Lüdtke: „In der Keute liegt eine Ziege, die könnt Ihr Euch nehmen.“

Dann forderten beide Männer mich auf, sie zu begleiten und ich ging mit ihnen ungefähr um 5 Uhr weg. Als ich mich von ihnen trennen wollte, um nach Neutomysl zu gehen, ließen sie mich nicht fort, Raschke äußerte dabei: „Sie kann nicht gehen, du weißt ja, was passieren wird.“

Ehe wir das Lüdtke’sche Haus verließen, gingen die beiden Männer mit der Ernestine in das Zimmer des Gottlieb Lüdtke, dessen Tür, soviel ich mich erinnere, nicht zugeschlossen war. Girndt kam mit der Flinte des alten Lüdtke, dessen Tasche und Pulverhorn wieder heraus und nahm diese Sachen mit. Unterwegs waren die Männer sehr niedergeschlagen, doch haben sie mir keinerlei Eröffnungen gemacht. Nur einmal hörte ich, dass Raschke zu Girndt äußerte: „Ich hätte mehr von dir erwartet!“ worauf dieser entgegnete: „Wie kannst du das, es sind ja meine nächsten Verwandten!“

„Ich fragte sie beide im Laufe der Zeit, wo die beiden Lüdtkes geblieben seien, sie antworteten übereinstimmend: „Die schlafen unter den Erlen, lass sie da ruhig liegen!“