Erinnerungen eines bei Fluchtbeginn knapp 7-jährigen an die Heimat

Die Bewohner der Hofstelle - Aufn. Privatbesitz

Mein Geburtsort ist die Hofstelle Schmergal in Friedenau/Warthegau,dem heutigen Jastrzebsko Nowe.

Hier lebten bis Anfang 1945 meine Großeltern, meine Eltern, mein dreieinhalb Jahre älterer Bruder Günther, gestorben bereits 1947, und ich: Horst, sowie die Polen Pelagia T. -genannt Pilascha- als Magd, Stanislaw T. -genannt Schtascho- als Großknecht und Stefan S. aus Lodz als Jungknecht.

Mit meinen 74 Jahren bin ich inzwischen der letzte Überlebende unserer Familie aus dem „Osten“. Meine Frau und ich haben zwei erwachsene Söhne und fünf Enkelkinder, die einmal fragen könnten, woher ihre Vorfahren stammten. Daher habe ich mich entschlossen, das aufzuschreiben, was mir aus der Kindheit in Erinnerung geblieben ist, denn außer einigen Fotos wäre ohne meine Erzählung nichts mehr vorhanden.

* * *

Die Dinge meiner frühesten Kindheit wurden schon mir erzählt, die spätere Zeit ist mir jedoch noch lebhaft in meiner eigenen Erinnerung. Manchem mögen sie als unwichtige Nebensächlichkeit erscheinen, haben sie doch mit den damaligen schicksalsschweren Abläufen wenig zu tun – es war jedoch das Leben unserer Familie in jener Zeit.

Meine Eltern - Aufn. Privatbesitz

Die ersten Jahre meiner Kindheit: Mein erster Tag auf dieser Erde soll bereits bedrohlich für mich begonnen haben, und das kam so: Rechtzeitig vor meiner Geburt wurde mein Bruder Günther zur befreundeten Nachbarin gebracht. Als ich dann endlich da war und für das Notwendigste gesorgt war, wurde mein Bruder zurückgeholt. Als dieser aber in „seinem“ Kinderwagen ein fremdes Baby vorfand, verlangte er, dass dieses sofort entfernt werden sollte. Weil daraus aber nichts wurde, soll er permanent versucht haben, den Kinderwagen umzustoßen. Ich musste daher ständig bewacht und beschützt werden, bis Günther zur Einsicht kam und sich darin fügte, einen „kleineren“ Bruder zu haben.

Als Baby war ich häufig kränklich und wurde zusätzlich mit Mohrrübensaft und -brei ernährt. Später gab es dann täglich einen Esslöffel Lebertran.

Schon im Alter von viereinhalb Jahren musste mir der Blinddarm entfernt werden. Mein Vater brachte mich in das Posener Krankenhaus, wo die Operation dann durchgeführt wurde. Die einstmals kleine Operations-Narbe wurde im Laufe der Zeit mit meinem größer werdenden Bauch immer länger.

Im Kinderkrankenhausbett hatte ich ständig eine Puppe, die nur ein längs gestreiftes Kleidchen trug und im Nacken ein eingestanztes „Schildkröt-Zeichen“ besaß.

Hochzeitsbild meiner Eltern - Aufn. Privatbesitz

Das Krankenzimmer befand sich im 2. oder 3. Stockwerk. Das war für mich sehr ungewohnt, waren doch bei uns zuhause alle Räume zu ebener Erde. Das elektrische Licht, das wir daheim nicht hatten, registrierte ich zu Beginn gar nicht. Wenn ich von oben aus dem Fenster sah, konnte ich tief unten regen Autoverkehr beobachten. Fassungslos vor Staunen war ich, dass dort kleine Lieferwagen fuhren, die vorn nur noch ein einziges Rad hatten, kannte ich doch bis dahin nur von Pferden gezogene Gespanne.

Als mich mein Vater vom Krankenhaus abholte, besuchten wir den Zoo. Hier ist mir besonders das Glashaus mit den Riesenschildkröten in Erinnerung geblieben. Diese waren größer als ich selbst zu jener Zeit gewesen bin.

Mutti mit ihren Söhnen - Aufn. Privatbesitz

Wieder zu Hause spielte ich mit meinem wenigen Spielzeug auf dem Sandhaufen, lief den Großen hinterher und durfte manchmal mit zu den Feldern hinausfahren. Eine riesige Abwechslung und Freude war es daher für Günther und mich, als unsere Eltern endlich unseren alten Kinderwagen als Spielzeug freigaben. Abwechselnd durfte der eine im Wagen sitzen und der andere musste schieben. Ich hatte immer den Verdacht, dass ich viel zu lange schieben musste, konnte gegen meinen „großen“ Bruder aber nicht viel ausrichten.

Viele meiner Erinnerungen sind eng mit unserem Hof selbst und dessen direkter Umgebung verknüpft. Daher versuche ich jetzt in Gedanken nach und nach einen Rundgang durch das Wohnhaus und die dazugehörigen Wirtschaftsgebäude zu machen. Mit Ausnahme der mit zwei Toren versehenen Holzscheune waren alle Gebäude bis zum Kniestock in Massivbauweise erstellt.

Plan aus der Erinnerung

Als erstes war da natürlich das Wohnhaus. Die Haustür zu ihm befand sich deutlich rechts von der Mitte auf der Hofseite. Im Flur führte eine Tür rechts in die Ausgedinge- Wohnung, eine Tür nach links führte eigentlich in die „gute Stube“, war aber durch einen Schrank zugestellt und die letzte Tür direkt geradeaus gewährte den Zugang in die Wohnküche der Elternwohnung.

Der ehelm. Anbau für Vorräte war nicht mehr vorhanden - Aufn. Rechenburg 1980

Giebelseite mit der aufgehobenen Hofeineinfahrt - Aufn. Rechenburg 1980

Man kam direkt in die Küche mit großem   Esstisch, den Schränken, dem Herd und  dem Kachelofen. In der Küche selbst zweigte eine Tür nach links in das Schlaf- und Wohnzimmer und eine weitere nach rechts hinten ab. Dort ging es zur Waschküche. In  ihr befanden sich u.a. Waschkessel und -zuber mit dem dazugehörigen Waschbrett, sowie Stampfer, Zentrifuge und die Milchkannen. Von dieser Waschküche wiederum gelangte man durch einen Ausgang direkt nach draußen in den Obstgarten und letztlich führte aus ihr noch ein Durchgang zum Kartoffel- und Vorratskeller. Richtige Keller konnten wegen der hohen Grundwasserstände und der Überschwemmungsgefahr in unserem Siedlungsgebiet nicht angelegt werden. Die „gute Stube“ wurde nur zu besonderen Anlässen genutzt: sie war daher auch nur an diesen besonderen Tagen beheizt. In ihr wurden aber auch die vielen Einmachgläser, hauptsächlich gefüllt bei den Schlachtungen, aufbewahrt. Das Harmonium, das rechts hinter der Tür stand, wurde gespielt, wenn bei uns Veranstaltungen des EC (Jugendbund für entschiedenes Christentum) stattfanden. Einige der Lieder konnte mein Vater, der das Instrument sonst nicht beherrschte, mit einem Finger nachspielen.

Im kombinierten Schlaf- und Wohnzimmer standen u.a. die großen Ehebetten, ein Wäscheschrank, die Vitrine mit dem guten Geschirr, die meinem Vater gehörende  Nähmaschine und eine gemütliche Ofenbank vor dem in den Raum hineinragenden dunkelgrünen Kachelofen.

Der ehelm. Anbau für Vorräte war nicht mehr vorhanden - Aufn. Rechenburg 1980

Über dem Kopfende der Ofenbank tickte unsere Kuckucksuhr. Zur vollen Stunde öffnete sich das Türchen und der Kuckuck verkündete die Uhrzeit. Mit der Gewichtskette kitzelten wir denjenigen, der sein Mittagsschläfchen auf der Ofenbank hielt, vorsichtig so unter der Nase, dass dieser zwar nieste, aber nicht vollständig aufwachte.

Der schon erwähnte dunkelgrüne Kachelofen wurde von der Küche aus beheizt. Gleichzeitig hatte dieser auch eine Bratröhre, die von uns zur Herstellung von Bratäpfeln sehr häufig benutzt worden ist.

Die Nähmaschine hatte einmal dem Haupterwerb meines Vaters als sein wichtigstes Werkzeug dienen sollen. Er war als Schneidergeselle ausgebildet und hatte diesen Beruf auch ausüben wollen, ehe die Umstände es dann mit sich brachten, dass er den Hof übernehmen musste. Um „früher“ einen Beruf erlernen zu dürfen, musste man den Lehrherm bezahlen. Der Familie meines Vaters, er hatte noch 8 Geschwister, war dieses bestimmt nicht leicht gefallen. Günther und ich hatten durch unser Herumtollen häufig zerrissene Sachen, und daher war meine Mutter froh, dass die notwendigen Reparaturen durch meinen Vater erledigt wurden. Neue Hosen erhielten wir maßgeschneidert, kniebedeckt und mit Stoffhosenträgern.

Aber weiter mit dem Rundgang: vom Wohn- und Schlafraum führte eine Tür in einen Anbau. Er war Ersatz für nicht vorhandene Kellerräume. In ihm wurden Vorräte kühl aufbewahrt und in breiten Holzregalen Äpfel und Birnen gelagert, um auch  durch die Winter hindurch mit Obst versorgt zu sein.

Rückansicht Wohnhaus - Aufn. Rechenburg 1980

Die Küche war der größte Raum des Hauses. Hier wurde gekocht, gegessen und gewohnt. Sie war im Winter der einzige ständig geheizte Raum, in dem sich auch vornehmlich das Familienleben abspielte.

Wenn Pilascha uns Kinder morgens aus dem Bett holte, hatte sie schon für heißes Wasser gesorgt. Wir wurden gewaschen und, soweit noch erforderlich, auch angezogen. Das „Leibchen“ war ein wichtiges Stück Unterwäsche.

Mutti war u.a. für kochen, melken und backen zuständig. Eine Spezialität war ihr Mohnkuchen. In eine mit scharfen Rillen versehene Steingutschüssel wurden die Mohnkörner hineingegeben und mit einem Mörser solange bearbeitet, bis alle Körner restlos zerstoßen waren. Zusammen mit vielen Zutaten entstand eine süße Creme, die dick auf den Kuchenboden aufgetragen wurde. Den Abschluss bildeten die Streusel.

Unser Backofen stand hinten im Garten in der Nähe eines Holzschuppens. Einmal wöchentlich war Brotbacktag. Die Brotlaibe waren groß und breit und hatten oft eine harte Kruste. Die einzelnen Scheiben wurden mit dem Messer ziemlich dick abgeschnitten und dann mit Butter und Marmelade, Quark oder Wurst bestrichen. Dazu wurde Milch oder auch Ersatzkaffee getrunken. Zu den Mahlzeiten saßen wir soweit anwesend alle gemeinsam am Tisch. Vor dem Essen wurde das Tischgebet gesprochen.

Reihe von Opas Obstbäumen - Aufn. Rechenburg 1980

Mit Einbruch der Dunkelheit wurden in der Küche zwei Petroleumlampen mit weißen Schirmen angezündet. Sie leuchteten den Raum einigermaßen hell aus, seinerzeit hatte man ja keine Vergleichsmöglichkeiten, heute würden wir sagen, dass es eher eine für die Augen ungute schummerige Beleuchtung gewesen ist. Ehe wir unter die dicken Daunendecken schlafen gingen, sprachen wir noch das Gute-Nacht-Gebet.

An jedem frühen Sonntagmorgen wurde der Fußboden in der Küche dünn und gleichmäßig mit schneeweißem Sand bestreut. Für uns gehörte dieses Ritual fest zum Sonntag dazu. Im Laufe des Tages wurde die Pracht dann zertreten und je später es wurde immer unansehnlicher. Am nächsten Morgen, dem Montag, wurden die inzwischen grau gewordenen Reste sorgfältig ausgefegt und beseitigt. Mir ist nicht bekannt, woher dieser Brauch einmal gekommen ist; oder war es einfach der Fußboden-Reinigung wegen gewesen? Es heißt heute, dass der ausgestreute Sand den Schmutz von draußen sowie die in die Dielen eingedrungene Feuchtigkeit aufsaugen sollte.

Da wir bis auf wenige Ausnahmen Selbstversorger waren, wurden im Winter vom Hausmetzger zwei Schweine geschlachtet. Dabei durften wir zusehen. Besonders beliebt waren bei uns die frisch zubereitete weiße Semmelwurst und die Blutwurst im Darm. Sie mussten zudem wegen ihrer geringeren Haltbarkeit zuerst verzehrt werden. Schlachtzeit war Einweckzeit. Wir hatten aber auch selbst Schinken und Mettwurst.

"Hans", Schtascho und "Liese" mit dem Fohlen - Aufn. Privatbesitz

Wie schon geschrieben zweigte vom Hausflur eine Tür nach rechts in die Altenteil- die so genannte Ausgedinge-Wohnung ab. Sie bestand aus einem kleinen Wohnraum mit Eßplatz und daran anschließender Küche und einem Schlafraum. Auch an diese Wohnung schloss sich ein Anbau zur Vorratshaltung und Lagerung von Obst an. Eine Tür gewährte den direkten Zugang zum Garten.

Wir Kinder blieben immer im Wohnraum. Hier hingen zwei große gerahmte Bilder. Sie zeigten von Pferden gezogene Geschütze, Kanoniere in blauer Uniform und roten Streifen um die Mütze, und es gab einen Text in goldfarbener Schrift. Das Foto unseres Opas war darauf aufgebracht, war er doch im 1. Weltkrieg Richtkanonier gewesen.

Seine beiden älteren Brüder, die eigentlich die Hoferben hätten sein sollen, waren während des Krieges gefallen. So musste mein Opa notgedrungen den Hof übernehmen, obwohl er viel lieber Gärtner geworden wäre.

Mein Großvater Johann Carl August Schmergal – Jahrgang 1876 – hatte irgendwie Bauernstolz! Er hat meinem Vater nie das „Du“ angeboten.

Für uns Kinder war er jedoch ein jederzeit ansprechbarer Großvater. Günther mit seinen blauen Augen war mehr Omas Junge und ich mit meinen braunen eben Opas. Wenn es sich manchmal ergab, dass Oma etwas in unseren Kinderaugen Schmackhafteres gekocht hatte als Mutti, durften wir ausnahmsweise nach „drüben“ zum Essen. Günther wurde dann von Oma betreut und ich durfte bei Opa auf dem Schoß sitzen und sogar aus seinem Teller essen. Nach dem Essen holte Opa ganz bedächtig ein kleines Blechdöschen mit Schnupftabak aus der Tasche und schnupfte eine kleine Prise. Direkt unter der Nase sah sein Schnurrbart manchmal leicht gelblich aus. In der Weste hatte er an einer Kette seine Taschenuhr mit Sprungdeckel. Noch vor Beginn meiner Schulzeit brachte er mir bei, die Zeit richtig abzulesen.

Schtascho hält für uns das Fohlen - Aufn. Privatbesitz

Da Opa wegen der vielen harten Arbeit als Bauer inzwischen auch Beschwerden hatte, benutzte er zum Einnehmen und Einreiben seine persönlichen Spezialmedikamente: „Hingfong“ und „Pain-Expeller“.

In der Zeit, als mein Vater zur Wehrmacht eingezogen war, übernahm Opa noch einmal das Ruder der Leitung der Landwirtschaft. Eine ausgezeichnete Stütze hatte er mit Schtascho, der mit jeder Arbeit vertraut war und über die gesamten Ländereien und durchzuführenden Arbeiten genau Bescheid wusste. Zum Wochenende erhielt er zusätzlich zum Lohn eine Handvoll Zigaretten. Stefan, der Jungknecht, erhielt diese auch, nur entsprechend weniger.

Auf dem Schrank in dem Wohnzimmer der Großeltern stand ein mit Batterien betriebener, dunkelbrauner, würfelförmiger Volksempfänger mit rundem Lautsprecher. Nachrichten, Reden und Wehrmachtsberichte wurden hier gehört. Die monotonen Pausenzeichen kamen uns Kindern immer unheimlich vor.

In der Nähe der Altenteiler-Wohnung auf der Hofseite befand sich auf einer deutlich  erhöhten Stelle der Brunnen und der runde Schleifstein mit Handkurbel. Unten ragte der Stein etwas in eine mit Wasser gefüllte Mulde und wurde so bei Gebrauch ständig befeuchtet.

Von den Wirtschaftsgebäuden ist als erstes der Pferdestall, der mit dem Kuhstall unter einem Dach war, zu erwähnen. Das langgestreckte Stallgebäude beherbergte in der ersten Hälfte, sie lag dem Wohnhaus am nächsten, die Pferde und in der hinteren Hälfte daran anschließend die Kühe, in unserem Sprachgebrauch die „Kie“. Der Pferdestall hatte zur Hofseite zwei Eingänge und zur Feldseite eine Hintertür für die Dungbeseitigung. Der Pferdedunghaufen war an zwei Seiten durch hochgewachsene Büsche den Blicken Fremder entzogen. Die Futterkrippen im Stall waren so hoch angebracht, dass Günther und ich nicht hineinsehen konnten. Aus unserer Perspektive wirkte alles einschließlich der Pferde einfach riesenhaft.

Kuhstall mit den beiden großen Toren - Aufn. Rechenburg 1980

Wir hatten drei große Kaltblüter und zeitweise ein Fohlen. Das übliche Zweiergespann waren „Hans“ und die Stute „Liese“. „Liese“ war sehr umgänglich und die Mutter vom noch jungen Rapphengst „Hans“. Der alte großrahmige Fuchswallach wurde noch zu Einspänner-Arbeiten herangezogen, durfte sich aber schon langsam auf sein Gnadenbrot freuen. Alle drei hatten zu ihrem Geschirr das passende Kummet. Sie waren sehr stark, die idealen Arbeitspferde. Sie reagierten prompt auf die Worte „schwie“ oder „hott“ – links oder rechts, ein Zug an der Leine war nicht erforderlich. Schwierig wurde es nur, wenn auf dem Feld direkt an der Eisenbahnlinie Bentschen – Posen gearbeitet wurde. Wenn sich fauchend und zischend ein Dampfzug ankündigte, mussten den Pferden trotz der Scheuklappen vorsorglich Wagen oder Ackergerät abgehängt werden. Die Pferde mussten dann beruhiqt und am Kopf ganz kurz gehalten werden.

Der Kuhstall hatte zur Hofseite wiederum zwei Tore. Es handelte sich um einen Tiefstall, der nur einmal im zeitigen Frühjahr ausgemistet wurde. Da es bei uns keine eingezäunten Weiden gab und die oft nassen Wiesen nicht zum Kühe hüten geeignet waren, blieben unsere fünf bis sieben Kühe ganzjährig im Stall. Ausgestreut wurde der Stall mit Fichtennadeln. Vor dem eigentlichen

"Minka" und wir vor der Holzverschalung für Fichtennadeln - Aufn. Privatbesitz

Kuhstall befand sich eine Holzverschalung mit breiten Brettern, in die eine ganze Reihe von Wagenladungen mit Fichtennadeln hineinpasste. Dieses Streumaterial holten wir regelmäßig trocken aus unserem eigenen Wald, nur dass wir den Wald nicht Wald sondern „Haide“ nannten. Ganz nebenbei bemerkt: hier gab es auch Mengen von goldgelben Pfifferlingen, die bei uns aber „Hähnchen“ genannt wurden. Im zeitigen Frühjahr, wenn die Kühe schon fast unter der Decke standen und der Boden draußen noch gefroren war, wurde der Stall ausgemistet.

Das war Schwerstarbeit.

Der kurze schwarze, zusammengepresste, hochwertige Dung musste zunächst losgehackt und dann auf den Mistwagen geladen werden. Der halbe Hof war dann in der kalten Luft in eine Dampfwolke gehüllt. Der Geruch ist mir als eigentümlich gut in Erinnerung. Auf dem Feld wurde der Dung in kleinen Häufchen auf dem noch gefrorenen Boden verteilt, indem die Seitenbretter des Wagens nach und nach immer höher geschoben wurden und der Dung herausfallen konnte. Die Feinverteilung musste dann sofort mit der Forke erfolgen.

Zur Melkzeit band sich Mutti regelmäßig ein schneeweißes Kopftuch um, sie hatte davon mehrere. Günther und ich mussten sie in den Kuhstall begleiten. Während sie molk hatten wir die zehn auswendig gelernten Gebote nach Luther aufzusagen. Bei Günther kamen die Erklärungen noch dazu. Hier hatte ich als der Jüngere eindeutig einmal einen Vorteil.

Alleinige Zufahrt zur Hofstelle - Aufn. Rechenburg 1980

Der Milchwagen kam nicht bis zu uns auf den Hof. Die Kannen mussten etwa hundert Meter bis zur Wegkreuzung gebracht und auf einem in Wagenhöhe vorhandenen Bock abgestellt werden. Hier erfolgte auch der Austausch mit den Kannen vom Vortag, die auf Bestellung oft Molke zur Fütterung enthielten.

Rechts neben dem Kuhstall befanden sich zwei rechteckig gemauerte Silos, die nur zur Hofseite offen waren. Die Silage war ein wichtiger Bestandteil der Fütterung.

Das nächste Gebäude war die parallel zum Wohngebäude stehende Scheune. Wiederum bildeten zwei große Scheunentore den Zugang. Das Dachgeschoß war nach allen Seiten deutlich vorspringend (Trempel), da früher eine große Fläche zur Trocknung  von Hopfen benötigt wurde.

Vor der Scheune war der Göpel platziert, der über eine Welle und Übersetzung den in der Scheune befindlichen ziemlich kleinen Dreschkasten in Betrieb setzte. Das Pferd, das vor den Göpel gespannt war, musste immer im Kreis laufen.

Scheune - Aufn. Rechenburg 1980

In der Scheune hingen auch zwei Dreschflegel. Sie wurden für Reste benötigt, die auf der Tenne ausgebreitet wurden. Die Arbeit mit den Dreschflegeln erfolgte immer zu zweit und zwar wechselweise genau im Takt.

Ab und zu brachten wir eine Fuhre Korn zur Mühle und tauschten diese gegen Schrot und Feinmehl. Da die Mühle nicht in der Nähe war, verging damit fast ein ganzer Tag.

Rechts von der nördlichen Hofein- bzw. Ausfahrt und auch vom Wohngebäude aus gesehen befand sich die Remise.Bei meinem Besuch im Jahre 1980 war diese vollständig abgetragen.

Schtascho und der stolze "Hans" - Aufn. Privatbesitz

Dieses massive Gebäude war das jüngste auf dem Hof und hatte auffallend hellblau lasierte Dachziegel. Links waren die Tore für Wagen und Geräte und rechts davon  war die separate Kammer der Knechte. In der Remise waren dicht an dicht die Kutsche, der Schlitten und die landwirtschaftlichen Geräte untergebracht und nicht einfach so. Was am nächsten Tag benötigt wurde, kam jeweils ganz nach vorn.

In der Knechte-Kammer schliefen Schtascho und Stefan. Pilascha, Schtaschos Schwester, fuhr nach Arbeitsende mit dem Fahrrad nach Hause, das war nur eine kurze Wegstrecke. Einmal sah ich, dass die Tür zu dieser Kammer offen stand. Als ich neugierig eintrat sah ich, dass sich Schtascho und auch Stefan die Füße stramm mit Fußlappen umwickelten. Auf meine erstaunte Frage, ob sie keine dicken Wollsocken hätten, antwortete Schtascho, dass man mit Fußlappen keine kalten Füße, keine Blasen und keine wunden Stellen bekommen könne. Diese Szene ist mir auch durch den strengen Geruch, der von diesen Lappen ausging, im Gedächtnis geblieben.

Mehrzweckstall, inzwischen abgerissen - Aufn. Rechenburg 1980

Rechte Seite des ehem. Mehrzweckstalles - Aufn. Rechenburg 1980

Das letzte Gebäude, das den Hof einschloss war der Mehrzweckstall; 1980 fand ich ihn in einem sehr schlechten Zustand vor. Er lag rechts von der südlichen Hofeinfahrt, die linker Hand wieder an das Wohngebäude anschloss. Er enthielt die Unterstellmöglichkeit für die Ackerwagen. Desweiteren waren in ihm der Hühner- und der Schweinestall untergebracht. Ganz rechts, dem Wohnhaus am nächsten gelegen, lag das „Plumps-Klo“.

Der Hahn und die Hühner hatten durch eine Klappe freien Auslauf nach hinten über eine Hühnerleiter hinaus auf den sicher umzäunten Hühnerhof. Am Abend wurde erst das im Stall befindliche Hühnervolk gezählt und anschließend die Klappe von innen verriegelt.

Wie zuvor schon geschrieben wurden zur Selbstversorgung nur ein paar Schweine gehalten. Das Ausmisten des Schweinestalles erfolgte wie bei den Pferden, nach draußen, hinten durch eine Tür.

Der Hofplatz war, wie schon erwähnt von den Gebäuden umschlossen. Der Hof wurde immer penibel sauber gehalten.

Vor dem Wohnhaus standen zwei große Kastanienbäume. Sie waren eine willkommene Kulisse, wenn nach christlichen Veranstaltungen Gruppenfotos gemacht wurden.

Eine Bekannte, Opa und der Verfasser dieser Zeilen - Aufn. Privatbesitz

An der Holzverschalung für das Einstreugut des Kuhstalles, stand die Hütte für „Minka“ unserer schwarz-weiß gefleckten, halbhohen Mischlingshündin. Ihren Beruf als Hof- und Wachhund übte sie zuverlässig aus. Sie wurde immer gut behandelt, obwohl sie ständig an einer langen Kette gehalten wurde, dieses war auf vielen Einzelgehöften wie auch bei uns üblich. Wir Kinder konnten unbesorgt in „Minkas“ Nähe herumtollen. Dabei gab es auch häufig Streicheleinheiten für unsere brave Hündin.

An der Rückseite der Holzverschalung stand ein hoher, alter Baumstumpf mit einem Storchennest. Dieses Nest wurde, soweit ich mich erinnern kann, jedes Jahr wieder angenommen. Die Freude war immer groß, wenn im Frühjahr der erste Storch eintraf und mit der Nestrenovierung begann. Mit einiger Zeitverzögerung kam dann auch die Partnerin. Begrüßung, klappern, dienern, tanzen und schnäbeln wiederholten sich jedes Jahr. Während der Brutzeit sorgte der Partner für die Ernährung, die bei uns im feuchten, morastigem Umland reichlich vorhanden war. Waren die Jungen geschlüpft, mussten beide Elternteile ständig für Futter sorgen.

Den weithin verbreiteten Geschichten vom Klapperstorch haben wir nie geglaubt. Wir konnten uns selbst davon überzeugen, dass die Storcheneltern allein schon mit der Versorgung ihrer eigenen Jungen voll ausgelastet waren.

Die Störche hatten das alleinige Recht, den Hof unter dem Nestbaum zu beschmutzen. Fast täglich mussten Heu und Stroh quer über den Hof gekarrt werden. Heruntergefallene Halme mussten umgehend aufgeharkt und entfernt werden, um die weiter oben erwähnte penible Sauberkeit des Hofes aufrecht zu erhalten. Nach Arbeitsende durften auch Wagen und Geräte nicht auf dem Hof abgestellt werden, sie mussten unter Dach gebracht werden.

Hausgiebel mit blühenden Bäumen - Aufn. Rechenburg 1980

Hausgiebel mit bühenden Bäumen - Aufn. Rechenburg 1980

Fast vergessen hätte ich, dass sich hinter der Bretterverschalung noch mehrere Kaninchenställe befanden. Die Kaninchen dienten auch der Selbstversorgung.

Das Gartenland war etwas höher gelegen und nur wenige Meter vom Haus entfernt auf der anderen Wegseite. Hier befand sich auch der Gemüsegarten.

Hier fällt mir ein, dass wir in unserem Dialekt, die Kartoffeln „ Apern“, die kleinen Kugeln nach der Kartoffelblüte „Apernbollang“ und die Steckrüben „ Wrucken“ nannten.

Im Garten waren manchmal Vogelscheuchen aufgestellt, die uns jedoch genauso wenig wie die Vögel beeindrucken konnten.

Ins Auge fielen mehrere Reihen mit Stangenbohnen. Eine weitere Besonderheit war ein ganzer Schlag mit Korbweiden. Teilweise brauchte sie Opa im Winter zum Flechten von Körben, teilweise wurden sie nach Aufbereitung auf dem Markt verkauft.

Die einzelnen Gemüsearten kann ich nicht alle aufzählen, behalten habe ich nur, dass es Himbeeren und Rosenkohl nicht gab. Auch Hopfen bauten wir nicht mehr an, die eigentliche Hopfengegend fing von aus gesehen auch erst in der Nähe von Sontop an.

Bahnhof Friedenhorst - Aufn. Rechenburg 1980

Manchmal fuhr Opa mit Pferd und Wagen mit seinen Produkten, unter ihnen auch Kartoffeln, Kürbisse und Korbweiden in die Stadt nach Neutomischel zum Markt.

Neben der Ausgedinge-Wohnung befand sich ein weiteres kleines Stück Gemüseland. Dies war Oma Augusta Martha Schmergals.Reich; sie war eine geborene Weber gewesen. Auf diesem Stückchen Land begann sie auch ihren Lieblingsenkel Günther in die Geheimnisse der Gärtnerei einzuweisen.

Neben Gemüse wuchs bei uns aber auch allerlei Obst. Am Südgiebel unseres Hauses rankte Wein. Die kleinen grünen Trauben waren im Herbst eine willkommene Leckerei.

Der eigentliche Obstgarten lag gleich hinter dem Wohnhaus. Er war zur Wegseite mit einem Staketenzaun abgegrenzt und nahm eine ziemlich große Fläche ein.

Dieser Obstgarten war Opas liebstes Hobby. In ihm beschäftigte er sich u. a. mit der Veredelung von Apfelbäumen. Es waren in ihm ganz viele verschiedene Apfelsorten angepflanzt und mein Großvater wusste über jede von ihnen über Namen, Geschmack, Haltbarkeit, Eignung und Zeitpunkt der Reife Bescheid. Ständig war er auf der Suche nach neuen und auch damals schon ganz alten Sorten.

Manchmal wuchsen auf einem einzigen Baum mehrere Apfelsorten. In Opas Jugendzeit, so die Familienüberlieferung, soll den Schmergals einmal in einem strengen Winter eine ganze Apfelallee erfroren sein.

Unsere Ländereien waren sehr vielfältig und lagen weit verstreut. Wiesen, schlechter Sandboden, sehr gutes „Weizenland“, Wald und Busch, alles war vorhanden. Außer dem Land direkt um den Hof waren im Laufe der Zeit durch Zukäufe hier und da auch weiter entfernte Flächen dazugekommen.

Wenn auf dem „Kroschnitzer“ oder „Lomnitzer“, so die Unterscheidung der weiter entfernt liegenden Flächen, Arbeiten zu verrichten waren, erhielten Schtascho und Stefan in einem Weidenkorb Verpflegung für den ganzen Tag, weil sie bis zum Abend unterwegs waren. Sämtliche Fahrten mussten auf Feld- bzw. Sandwegen zurückgelegt werden, was sehr beschwerlich war, da unsere Wagen noch keine Gummibereifung hatten. Eine befestigte, eine richtige Straße gab es erst ab Friedenhorst/Jastrebsko.

Opa hatte für sich und Oma zusätzlich zum Ausgedinge ein an der Bahn gelegenes kleines Arbeiterhäuschen, 3 kleine Zimmer, mit ein paar Hektar Land zurückbehalten.

Da der Mieter B. selbst kein Pferd besaß, war vereinbart, dass auch dieses Stück durch meine Eltern bestellt wurde.

Wenn Vati von geschäftlichen Besorgungen in der Molkerei oder bei der Genossenschaft zurückkam, war es ihm zur Gewohnheit geworden, dass er uns Kindern etwas mitbrachte. Das waren Käsestückeähnlich dem Limburger oder auch Flaschen mit Bügelverschluss, die rote, gelbe oder grüne Brause enthielten.

Opa kaufte sich regelmäßig wunderbar duftendes fast noch warmes Korbbrot vom Friedenhorster Bäcker. Wenn wir das merkten, bettelten wir solange, bis wir einen „Knust“ oder eine Schnitte erhielten.

Sonntägliche Kirchfahrt nach Friedenhorst - Aufn. Privatbesitz

Unsere Nachbarn im überschaubaren Umkreis waren die Familien Kessel, Deutschmann, Janott, Windmüller und Buschmüller. Günther und ich hatten nur näheren Kontakt zur Tante Kessel. Ich kann mich erinnern, dass Kessels eine größere und schönere Kuckucksuhr hatten als wir.

Mutti war in ihrer Freizeit sehr auf ihr Äußeres bedacht und mochte sich gern hübsch anziehen. Sie hatte u.a. einen Fuchspelzschal. Dieser hatte im Gesicht Glasaugen und unter der Schnauze einen Schnappverschluss. So konnte er sich in seinen eigenen Schwanz beißen. Wir Kinder baten so sehr, mit dem Fuchs spielen zu dürfen, dieses wurde uns jedoch nie erlaubt.

Der normale Ablauf an Sonntagen war, dass wir mit der Kutsche, im Winter mit dem Schlitten, nach Friedenhorst zur Kirche fuhren. Günther saß neben Schtascho vorn auf dem Bock und ich hinten zwischen Vati und Mutti. Vom Gottesdienst verstand ich noch nichts, mich fesselte aber stark ein Kirchenfensterbild, das vor rotem Hintergrund den „Guten Hirten“ mit langem Stab und seinen weißen Schafen zeigte; den dazugehörigen 23. Psalm kann ich heute noch auswendig aufsagen. Heute, 2012, ist dieses Kirchenfenster leider durch ein anderes ersetzt.

Im Hintergrund das Geburtshaus meines Vaters in Deutschhöhe - Aufn. Privatbesitz

Meine Eltern waren neben der Kirche noch eng mit dem EC (Jugendbund für entschiedenes Christentum) verbunden.Von Deutschhöhe aus verteilte eine mit Fahrrädern ausgerüstete Gruppe Missionsblätter an die im weiten Umkreis liegenden Gehöfte mit evangelischer Bevölkerung. Wahrscheinlich hat mein Vater bei dieser Gelegenheit meine Mutter kennengelernt. Ein Bruder meines Vaters war Bläser in einem Posaunenchor. Dieser Chor war auch manchmal bei uns zu Gast. Diakonissen, vom Diakonissen-mutterhaus in Vandsburg/ Westpreußen, veranstalteten auf unserem Hof auch Kinderfeste mit vielen kleinen Gästen. Fotografiert wurde die ganze Meute dann vor dem Wohnhaus unter den Kastanien-bäumen. Mutti war mit der Diakonisse Schwester Elfriede B. befreundet. Wenn diese ihren Besuch ankündigte, kochte Mutti zur Vorbereitung dünne Vanille-Milch, die dann, nachdem sie abgekühlt war, in eine große Porzellankaffeekanne gefüllt wurde. Für uns war das ein ganz besonderer Genuss. Schwester Elfriede brachte uns regelmäßig ein Spruchkärtchen und ein kleines Stück Schokolade mit. Wegen der Schokolade war sie bei uns sehr beliebt.

Die Ernüchterung kam dann 1944. Erst als wir das „Stückchen“ im Mund hatten, bemerkten wir, dass es keine Schokolade war, sondern nur noch Lakritze. Die Zeiten waren eben schlechter geworden.

An manchen Sonntagen unternahmen wir auch Besuchsfahrten zu den Verwandten. Das waren hauptsächlich Tante Lina, Muttis ältere Schwester, die den Bauern Hermann Heinrich in Sontop geheiratet hatte, Tante Ella, Vatis Schwester, die mit dem Bäckermeister Jokisch in Bentschen verheiratet war und meine andere Oma Emma Rechenburg auf der Hofstelle in Deutschhöhe.

Bläsergruppe mit Vatis Bruder - Aufn. Privatbesitz

Mit dem Weihnachtsfest hatte ich so meine Verständnisschwierigkeiten. Das größte Fest war tagsüber normaler Alltag und abends plötzlich Feiertag. In der guten Stube war der auf dem Tisch stehendeTannenbaum mit viel Lametta, bunten Kugeln, Wachskerzen und mit bunt bemalten weißen Kuchen geschmückt. Wegen der immer schlechter werdenden Zeit 1944 lagen nur wenige kärgliche Geschenke eingepackt unter dem Baum. Um uns auf die Folter zu spannen, wurde vor der Bescherung erst einmal gesungen und die Weihnachtsgeschichte vorgelesen.

Günther wusste, wo Mutti den Schlüssel zum Wäscheschrank aufbewahrte. So war es nicht schwer, die wenigen Teile ausfindig zu machen. Wir wussten somit bereits Tage vorher, was in den Päckchen verborgen war. Unbekannt war nur, wer was erhalten würde. Die interne Vorwegverteilung zwischen Günther und mir stimmte dann nicht immer mit der echten Bescherung überein. Einer von uns zog dann ein langes Gesicht.

Bentschener Posaunenchor - Aufn. Privatbesitz

Mein erster Schultag ging ziemlich daneben. Da meine Eltern für mich keinen Tornister mehr kaufen konnten, musste ich mit einer Aktentasche aus schlechtem Spaltleder zufrieden sein. Außerdem musste ich zu große Schuhe tragen, wahrscheinlich waren das vorher Günthers. Auf dem Hinweg wurde ich von Mutti begleitet. In der Schule in Grubsko angekommen, stellte sich heraus, dass der neue Erstklässler-Jahrgang lediglich aus fünf Mädchen und mir bestand. Ich fühlte mich einsam und verlassen. Günther hatte einen guten Tornister und zur Einschulung eine Schultüte genauso wie zwei Schulkameraden, Wilfried Ulrich und Eitel Bruns, bekommen – und ich?!

Kinderfest auf unserem Hof - Aufn. Privatbesitz

Wir sechs, die 5 Mädchen und ich erhielten unsere Plätze vorn in der ersten Reihe. Nach einer kurzen Begrüßungsrede durch die Lehrerin verließen uns die Erwachsenen.

Dann ging der Unterricht für die Zweitklässler weiter. Das hatte ich aber falsch verstanden.Ich blätterte verzweifelt in meiner Fibel hin und her und war sehr ärgerlich darüber geworden, dass ich den richtigen Text nicht hatte finden können..

Günther zwischen seinen Schulkameraden - Aufn. Privatbesitz

Der Richtweg zur Schule nach Grubsko war ein schmaler Fußweg durch die Wiesen, der bei Kessels vorbeiführte. Etwas weiter befand sich ein Bauernhof, auf dem Gänse gehalten wurden. Schlimm war es für mich, wenn mich der Gänserich erspäht hatte. Weil er seine Gänse beschützen wollte, kam er mit großer Geschwindigkeit halb fliegend mit ausgespreizten Flügeln zischend auf mich zu. Mit meiner Aktentasche konnte ich seine Angriffe abwehren, musste dabei aber streckenweise rückwärtsgehen. Wenn die Gänse an manchen Tagen nicht zu sehen waren, durchquerte ich die Gefahrenzone im Laufschritt.

Tante Lina, Muttis ältere Schwester - Aufn. Privatbesitz

Kurz vor Grubsko kamen wir an einer Hausruine vorbei; das Dach war bereits eingestürzt, die Giebel waren schief, standen aber noch. Wegen der Einsturzgefahr hatten wir Verbot die Ruine zu betreten. Da aber auch dort, wie auch bei uns zuhause, an der einen Giebelseite Wein rankte, der blaue Trauben und größere Beeren hatte als unser Wein mit seinen kleineren grünen Trauben, konnten wir der Versuchung nicht widerstehen und kletterten am Giebel herum. Es hieß, die Familie, die hier mal gewohnt hatte, sei ausgestorben.

Ende 1944 erfuhren wir, dass Deutsche aus anderen Gebieten des Ostens bereits auf der Flucht waren. Opa begann daher auch bei uns mit Vorbereitungen. Der beste Leiterwagen mit den noch fast neuen Rädern wurde heimlich in der Scheune zum Fluchtwagen ausgebaut. Die Beladung mit dem Notwendigsten wurde sorgfältig geplant. Auch an die Versorgung für die Pferde und an Werkzeug wurde gedacht. Eingemachtes, Kleidung, Wäsche, Geschirr, Bestecke und Sonstiges vergruben Opa, Oma und Mutti an einer geheimen Stelle. Das Versteck wurde für alle Fälle nur einer einzigen polnischen Vertrauensperson mitgeteilt.

Schulgebäude Grubsko - Aufn. Rechenburg 1980

Im Januar 1945 erhielten wir dann den Befehl zum Aufbruch.

Da Opa auf der Flucht auch Lina, seine älteste Tochter mit den vier Kindern und den Schwiegereltern bei sich haben wollte, musste noch ein Umweg nach Sontop in Richtung Osten eingeplant werden.

Als wir langsam von unserem Hof rollten, winselte „Minka“ und zerrte an der Kette. Sie fühlte, dass hier etwas Einschneidendes, Schreckliches vor sich ging. In diesem Augenblick empfanden Günther und ich das Ganze noch als eine Art Abenteuer, die Wirklichkeit holte uns aber ganz schnell ein.

Schtascho begleitete uns eine ganze Wegstrecke, wurde dann aber mit Dank von Opa verabschiedet. Schtascho wollte, so hatte er sich angeboten und so war es dann auch vereinbart worden, den Hof bis zu unserer baldigen Rückkehr treu versorgen und auf ihn aufpassen.

Restlos verschwundene Geburtsstätte meines Vaters in Deutschhöhe - Aufn. Rechenburg 1980

Er lebte nach seiner Rückkehr auch auf dem Hof; in späterer Zeit musste auch er den Hof räumen. Ihm wurde ein kleinerer Hof – ehemalig Rausch- zugewiesen.

Die Erwachsenen waren trotz sehr schwerer Arbeit und einfachsten Lebensverhältnissen stets zufrieden und manchmal auch glücklich. Wir Kinder kannten kein anderes Leben. Meine Eltern, Großeltern, und mehrere weitere Generationen vor uns haben über 150 Jahre lang trotz mehrfach wechselnder politischer Herrschaft mit Bürgern anderer Nationalität und anderer Glaubensrichtung friedlich zusammengelebt.

1945 hofften wir daher noch, nach Beruhigung der Lage bald in unsere angestammte Heimat zurückkehren zu dürfen. – Es kam anders.

* * *

Und heute? – Im Juli 2012 machten mein Sohn und ich ganz spontan eine Tagesfahrt zu den Stätten meiner Kindheit. Seit meinem letzten Besuch in den 80iger Jahren hat sich der Gesamteindruck des Powiats Nowotomyskim stark verändert. Wir  mussten sogar suchen und auf mehreren fremden Höfen um Hilfe bitten, um die neue Zufahrt zu meinem Elternhaus zu finden.

Horst Rechenburg - der Autor - 2012 in Nowy Tomysl

Vor 30 Jahren wirkte die Gegend ärmlicher, von den damaligen Bewohnern unserer ehemaligen Hofstelle wurden wir schon damals herzlich und gastfreundlich aufgenommen. Heute kann man überall den Aufschwung sehen. Die Aufnahme dieses Jahr war ebenso herzlich, wurde jedoch noch dadurch übertroffen, daß wir uns in „Deutsch“ verständigen konnten.

Am meisten hat mich gefreut, dass unser ehemaliger Hof nach wie vor von freundlichen und netten Menschen bewohnt ist. Ist es heute auch kein Landwirtschaftbetrieb mehr, so hat das Anwesen denn doch eine neue Bestimmung erhalten. Vielleicht wird es den Menschen, die dort heute leben, dass was es mir geblieben ist – ein Stückchen Heimat.

Juli 2012