1939/1940 wurde von der damaligen NS-Regierung eine politische Umgestaltung des durch den Überfall der Deutschen auf Polen nun zu Deutschland gehörenden polnischen Staatsgebietes vorgenommen, der „Warthegau“ wurde geschaffen. Es kam zu zwangsweisen „Germanisierungen“ und im Gegenzug zu ethnischen „Säuberungen“, zur Deportation und Liquidierung von Polen und Juden.
Zum Kriegsbeginn im September 1939 war der in Sontop amtierende Pfarrer Tauber durch polnische Truppen interniert und auf dem Verschleppungsmarsch bei Kostschin erschossen worden.
1939 war auch das Jahr der „Umsiedlung“ der Deutschbalten nach Deutschland in Folge des „Hitler-Stalin-Paktes“. Im Oktober musste Pfarrer Johannes Walter mit seiner Frau Marianne, geb. von Cube, und ihren vier Kindern Estland verlassen. Durch Generalsuperintendent Paul Blau wurde ihm noch im gleichen Jahr die Pfarrstelle in Sontop zugewiesen.
Frau Karin Kasimir, zweitälteste Tochter des letzten deutschen Sontoper Pfarrers – damals 7 Jahre alt – erinnert sich an ihre kurze Zeit in Sontop
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Als unsere Mutter mit uns Kindern 1940 aus dem Übergangslager Neustettin in Sontop ankam, wohnte die Witwe Lotte Tauber mit ihren Kindern Wolfgang, Renate, Hans-Christoph und Klaus-Jürgen noch im Pfarrhaus, bevor sie nach Dresden verzogen. Unsere Familie bewohnte zunächst das Obergeschoß. Sehr bald entstand ein freundschaftliches Verhältnis zwischen beiden Familien, das über das Kriegsende hinaus Bestand hatte.
Im Juni 1941 wurde mein Vater zur Wehrmacht eingezogen. Im Gegensatz zum „Altreich“ wurden in den besetzten Ostgebieten gerade viele Pfarrer zum Wehrdienst verpflichtet. Die Regierung wollte mit dieser Maßnahme wohl den erwarteten Widerstand der Kirche gegen ihre Politik unterbinden.
Da mein Vater – mit Ausnahme seiner Urlaube – keine Gottesdienste mehr halten konnte, vertrat ihn Superintendent Päschke aus Neutomischel an jedem zweiten Sonntag in Sontop. An den anderen Sonntagen wurde durch einen Kirchenältesten ein Lesegottesdienst gehalten. Meine Mutter redigierte die Predigttexte vorher, so dass sie leichter lesbar wurden.
Meine ein Jahr ältere Schwester und ich mussten ab dem 5. Schuljahr zum Schulbesuch zur „Hauptschule“ (eine NS- Gründung) nach Neutomischel. Wir gingen l Jahr dort zum Unterricht. Ich erinnere mich, dass der Lehrstoff an dieser Schule stark nationalsozialistisch geprägt war, z.B. mussten wir bei politischen Feierstunden in der Weihnachtszeit „Hohe Nacht der klaren Sterne“ singen.
Da der Weg von Sontop nach Neutomischel für uns ja noch recht kleine Kinder weit war, kamen wir für die Wochentage „in Pension“ zu Päschkes ins Pfarrhaus.
Superintendent Päschke ist mir als ein sehr humorvoller und kinderlieber Mann in Erinnerung. Unser liebstes Abendspiel war Verstecken im großen Pfarrgarten. In unserem Alter waren die Söhne Bernd und Reimar. Es gab noch die Tochter Dagmar, die aber wohl einige Jahre älter war, sie erschien mir jedenfalls als sehr erwachsen. Und sie beteiligte sich auch nicht an unseren Spielen.
Die Wochenenden verlebten wir in Sontop; hier waren wir vor allem mit Ruth Heinrich und Anita Siegesmund zusammen, die – meiner Erinnerung nach – auch die Schule in Neutomischel besuchten. Trotz der Kriegszeit waren die ersten Jahre in Sontop doch auch unbeschwert, wenn ich von der Abwesenheit unseres Vaters absehe.
An das Pfarrhaus in Sontop schloss sich der große Garten an. Er war sehr schön gestaltet, da er das Hobby der Taubers gewesen war. Ich erinnere mich deutlich an die Narzissen- und Tulpenpracht im Frühjahr, an Spargelbeete, an Weinreben an der Südseite des Hauses und an ein Kakteenhaus.
Ein kleiner Bach trennte den Blumen- vom Gemüsegarten. Im Sommer stauten wir ihn auf, bis er gut vollgelaufen war. In einem Waschzuber stakten wir dann auf ihm herum, manchmal kenterten wir auch.
Im eben erwähnten Waschzuber wurde von Frau Hecke die „große Wäsche“ gewaschen. Sie wohnte am Ortsausgang von Sontop in Richtung Neutomischel und wusch für viele Leute im Dorf.
In Sontop schloss fast jeden Hofplatz neben dem Wohnhaus ein großes Holztor ab. Im Sommer öffneten die Tore sich zur selben Zeit, und die Kühe wurden von Kindern oder Halbwüchsigen auf die Weiden getrieben. Die zum typischen Straßendorf Sontop gehörenden Weiden lagen oft recht weit vom Dorf entfernt. Während der Ferien war es auch für uns ein Vergnügen, manchmal mit unseren Freundinnen Kühe zu hüten. An den Weideplätzen angekommen, verteilten die Hütejungen die Tiere jeweils auf die den Höfen zugehörigen umzäunten Weideflächen.
Der Holzzaun, der unseren Hof zur Dorfstraße hin abschloss, hatte in Abständen starke Pfosten, die oben eine Art Platte als Abschluss hatten. Bei uns Kindern war es beliebt, auf diesen Pfosten zu sitzen und das Geschehen auf der Dorfstraße zu beobachten. Ab und zu stand neben unserem Aussichtsplatz Herr Seide, ein recht kleiner alter Herr, der eine Glocke schwang und dann Bekanntmachungen verlas.
Eine Begebenheit ist mir in Erinnerung, die für Gesprächsstoff im Dorf sorgte und uns Kindern großen Eindruck machte. Es war der Unfall eines jungen Mädchens. Sie hieß Dora Winter und fuhr mit dem Rad von Neu Rose nach Sontop. Unterwegs wurde sie angeschossen, eine Kugel traf sie in den Oberschenkel. Der Jäger hatte sie für ein Reh gehalten.
In Sontop wurden zum Wochenende die Straßen gefegt und geharkt. Eine Hälfte der Straße war gepflastert, die andere war eher ein Sandweg. Dieser Teil wurde jeden Sonnabend (wie man damals sagte) geharkt. Wir mussten uns natürlich dieser Sitte anschließen, und so wurde unser Hofplatz, der nur durch einige gepflasterte Wege unterteilt war, unter uns Kindern aufgeteilt und auch entsprechend geharkt, Sontop war ein sehr gepflegtes Dorf!
Ich habe das Leben in Sontop während der ganzen Kriegszeit als ruhig und friedlich in Erinnerung. Es lebten im Dorf aber auch kaum polnische Bürger, so dass heftige Auseinandersetzungen, wie sie andernorts vorkamen, nicht stattfanden. Natürlich mussten in jener Zeit polnische Menschen für die deutschen Bauern arbeiten, und auch wir hatten eine polnische Haushilfe, aber von Schwierigkeiten habe ich damals nichts gehört.
Der Ortsvorsteher Herr Lengert war natürlich Mitglied der NSDAP, das galt auch für den Lehrer Herrn Grüning. Man sah sie in ihren entsprechenden Uniformen. Meine jüngere Schwester erinnert sich, dass ein Junge, Siegfried Bredler hieß er wohl, unter dem Lehrer zu leiden hatte. Ich habe kaum Erinnerungen an die Sontoper Schule, da ich sie mir kurze Zeit besucht habe.
Zurück zu Neutomischel: Wir konnten bei Päschkes nicht mehr während des ganzen Schuljahres bleiben, den genauen Grund weiß ich nicht mehr. Ich wurde daraufhin bei einer Familie in Neutomischel untergebracht, deren Name mir entfallen ist. Die Familie hatte eine Ölmühle. Dort habe ich ein Gericht zu essen bekommen, es bestand aus Pellkartoffeln, Quark und Leinöl; unbekannt war mir bis dahin auch Biersuppe gewesen. Dass ich mich daran so genau erinnere zeigt, dass es mir wohl geschmeckt hat.
Zum Ende des Schuljahres war mein Aufenthalt dort auch beendet. Unsere Eltern schickten meine Schwester und mich auf eine christliche Schule: die Herrnhuter Internatsschule in Niesky, nicht weit von Görlitz. So konnten wir nur noch in den längeren Ferien, also zu Ostern und im Sommer in Sontop sein.
Im dritten Oberschuljahr mussten wir wieder die Schule wechseln. Die ständigen Fliegerangriffe machten die lange Eisenbahnfahrt und das Umsteigen in Cottbus gefährlich. Wir besuchten nun eine aus Posen ausgelagerte Schule in Unterberg, nahe Posen. Auch hier waren wir „in Pension“, bei der Pastorenwitwe Frau Kienitz in Puschkau.
Es kam das Jahr 1945. Meiner Schwester und mir gelang es nicht mehr, im Januar einen Zug nach Sontop zu erreichen, so nahmen uns Verwandte mit auf die Flucht von Posen über Leipzig nach Zwenkau und schließlich nach Herford in Westfalen. Von unserer Mutter und den beiden jüngeren Schwestern waren wir lange getrennt und ohne Nachricht. Sie waren von Sontop mit dem Kirchenältesten Richard Fenske getreckt. Das lief aber nicht alles wie geplant, und so wurden die Sontoper, mit denen meine Mutter und die Schwestern waren, von der Front überholt und von den russischen Truppen bis Gleißen(Glisno) zurückgeschickt. Sie blieben in Polen bis zur späteren Ausweisung.
Mein Vater war noch Weihnachten 1944/45 zu einem Kurzurlaub in Sontop, im Januar musste er sich in Posen zum Einsatz stellen. Seitdem haben wir nichts mehr von ihm gehört. Der Suchdienst des DRK teilte uns mit, dass seine Einheit beim Kampf um die „Festung Posen“ eingesetzt war, und es wird vermutet, dass er dabei zu Tode kam.
Im Juni 2011 habe ich, begleitet von meinem Mann, Sontop wiedergesehen. Ich konnte mich noch gut orientieren und erkannte vieles wieder. Sehr herzlich wurden wir von Pfarrer Szulcik begrüßt und mit Kaffee bewirtet. Ein schöner Anblick war die wunderbar gepflegte Kirche, und besonders freute mich die Erinnerungstafel am Eingang des Friedhofs.