Familie Postler zu Kirchplatz Boruy

 

Pastor Theodor Gustav Julius PostlerZusammengestellt vor allem aus der „Festschrift zum 50jährigen Amtsjubiläum des Herrn Oberpfarrer Theodor Postler am 5. September 1908 zu Schwanebeck“, Sonderbeilage zur „Huy-Zeitung“:

Pastor Theodor Gustav Julius Postler war in den Jahren 1866-1873 als Pastor in Kirchplatz Boruy tätig. Seine Frau Anna war unter dem Pseudonym Elise Linden als Schriftstellerin tätig. Ein von ihr herausgegebenes Büchlein „Unter dem Weihnachtsstern“ soll das Alltagsleben der Bauern der Gegend beschrieben haben – leider haben wir keine Ausgabe dieses Heftchens finden können… Aber ! Herr Christoph Conradi hat uns neben der Biographie des Herrn Pastor und Rektors Theodor Gustav Julius Postler freundlicherweise zur Veröffentlichung noch die Kurzgeschichte „Unter der alten Linde“ von Elisabeth Postler, Tochter des Pastorenpaares  zur Verfügung gestellt. Vielen Dank !

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 Theodor Postler ist am 8. Mai 1830 im schlesischen Militsch  als „der zweite Sohn des Diakonus und Rektors Postler und dessen Ehefrau Wilhelmine geb. Elsner“ geboren. Sein Vater war Lehrer – Rektor und Diakonus an der Gnadenkirche in Militsch -, auch sein Großvater war Lehrer und er selbst ist Pfarrer und Lehrer geworden.

Studiert hat er in Breslau, von 1849 bis 1853, in dieser Zeit genügte er seiner Militärpflicht.

Schon als junger Schüler hatte er Nachhilfestunden gegeben und als Student wurde er zugleich Hauslehrer.

Im Jahre 1856 wurde er Rektor und Nachmittagsprediger in dem benachbarten lieblichen Städtchen Sulau.

Dort lernte er seine Frau kennen, Anna Mannes. Sie wohnte in der Nachbarschaft und man hatte „beim Einzug des fremden jungen Mannes“ die Tür zwischen den beiden Grundstücken zunageln lassen. „Das hinderte aber nicht, daß dieser junge Mann diese Gärten und das dahinterliegende Haus sauber zeichnete. So kam es denn, daß die Nägel wieder herausgezogen wurden.“ Am 16. November 1858 führte „der Herr Rektor Postler sich seine 18jährige Braut Anna mit den großen blauen Augen, der zierlichen Gestalt und den vier dicken, dunklen Flechten als seine Hausfrau in das kleine Rektorhaus“ ein.

Sie bekamen 7 Kinder: Martha, Elisabeth, Kurth, Hedwig, Gertrud, Margarete, Katharina. Martha war von 1876 bis 1904 Blindenmissionarin in China. Elisabeth wurde Schriftstellerin.

1859 ging es in die erste eigene Pfarre, nach Santomysl (Provinz Posen), 1866 nach Boruy. Dort gehörten zum Pfarramt 42 Orte, auf weite Strecken verteilt. „Für Eltern wie Kinder war die Boruyer Zeit ein Stück friedlichen Paradieses.“ Aber „so schön es sich in der fast in Linden und Rüstern versteckten Boruyer Pfarre leben ließ, wo auch noch kirchlicher Sinn die Leute oft von weither in Scharen in die Kirche rief “ – die erwachsene Kinderschar mußte in geeigneten Unterricht.

So nahm Theodor Postler 1873 die Stelle eines ersten Lehrers am Königlichen Seminar in Halberstadt an. Bis 1876 ist er dort gewesen. Er war in dieser Zeit „so mit amtlichen und freiwillig übernommenen Stunden überbürdet, daß er sich dort so gut wie gar nicht um den Unterricht seiner Kinder kümmern konnte. Er hat lange Zeit 48 Stunden gegeben, dazu unermeßliche Stöße von häuslichen Arbeiten der Seminaristen nachgesehen. Er pflegte mit Vorliebe an einem Stehpult zu arbeiten, wo man ihn ebenso gut am frühsten Morgen wie bis Mitternacht finden konnte. … Außerdem hat er noch sehr fleißig an pädagogischen Werken mitgearbeitet.“ Dazu wurde er „in seinen Schreibereien wiederholt durch schwere Erkrankungen in der Familie gestört.“ Oft saß er nachts am Krankenbett seiner Frau.

1876 kam er als Direktor nach Bütow in Pommern. „Gott Lob und Dank, das Vertrauen, das die Behörde in den neuen Direktor setzte, erfüllte sich auf das glänzendste. Gott Lob und Dank, es ist ihm geglückt, mittels seiner eigenen strengsten Berufstreue, nicht am wenigsten vielleicht durch seine jederzeit tapfer gezeigte Ansicht, daß er der Direktor eines Königl. preußischen Seminars war, mit Takt und Umsicht die wirklich reichlich vorhandenen Schwierigkeiten zu überwinden. Mißtrauisch  war er bei seinem Antritt begrüßt worden als der Mann mit dem eisernen Besen, der allerlei nicht zum Wohle der Anstalt eingebürgerten Gewohnheiten usw. fortfegen sollte. Vielen erschien er so recht als die Verkörperung des (auch nicht bloß in strengen welfischen Kreisen unangenehm empfundenen) Preußentums. Aber im Laufe der Zeit hatte sich das Blatt vollständig gewendet!“

3 ½ Jahre war er in Bütow und dann 3 ½ Jahre in Verden an der Aller.

1884 bekam er wieder eine Pfarrstelle. Er wurde Pfarrer in Schwanebeck bei Oschersleben: am 14. April 1884. Dort ist er geblieben. Dort ist seine Frau gestorben (1891) und in die Schwanebecker Zeit fällt der Tod seiner Tochter Martha (1904). „Fünfmal war es ihm vergönnt, den Lebensbund geliebter Kinder am Altar zu segnen, manches liebes Enkelein hat er getauft, leider auch zwei herzige Kleine wieder begraben müssen.“ Dort hat er mit 78 Jahren sein 50 – jähriges Amtsjubiläum gefeiert. Im Jahr 1912, mit 82 Jahren, ist er in Schwanebeck aus dem Amt geschieden.

Am 31. Dezember 1919 wird Theodor Postler, Ritter hoher Orden, zum Logen-Ehrenmeister der Freimaurer-Loge zum Bunde des Ordens der Ritter der Barmherzigkeit ernannt.

Am 9. Juni 1920 ist er in Halle an der Saale gestorben.

Das Pfarrhaus / Postkartenausschnitt

Unter der alten Linde – Autorin Elisabeth Postler

Weit streckt sie ihre im Sonnenschein grüngolden schimmernde Blattkrone aus, über den traulichen grossen Pfarrgarten, die liebe alte Linde, unter deren Schatten ein munteres Kinderhäuflein heranwuchs, so recht in herrlicher Freiheit, die die wahren Kinder Gottes den Ihren zu bereiten wissen. Ein Vorgänger des Pfarrers Postler hatte sogar sich in den, allerdings für dergleichen trefflich geeigneten, wohlgebildeten Geäst eine Art Studierstube aufführen lassen. Pastor Postlers Studierstube aber schaute mit blanken Fensteraugen aus Baumkronen über die stattliche Weinlaube hinweg, daraus zuweilen der Ruf erschall: Kommt einmal herauf. Da wurde ohne Widerrede das schönste Spiel unterbrochen und es wurde mit Andacht irgend ein schönes Buch, das der Vater den Kindern zeigen wollte, betrachtet, irgend eine Aufgabe möglichst rasch gelöst. Bei der Ausdehnung des Pfarramtes und der Zerstreuung der einzelnen Gemeindeglieder auf weite Strecken hatte der Vater nur selten Zeit für die Kinder und nutzte dazu jeden freien Augenblick aus. Nahm wohl auch das eine oder das andere mit auf seinen zahlreichen Amtsfahrten und solche wurden dann zu dem anziehendsten Anschauungs- und Gelegenheitsunterricht, den man sich denken konnte. Da hat auch Martha Postlers feines Köpfchen während der, meist nach polnischer Art, mit von bunten Decken geschmückten Strohsitzen ausgestattete Wagen, durch das freundliche Gelände glitt, manch knifflige Rechenaufgabe gelöst, manch gutes Gedicht aufgesagt, wie z.B. das wunderschöne von Chamisso, von der alten Waschfrau, das die etwa achtjährige mit einer Anmut und Innerlichkeit nach kurzem Lesen eben nicht nur auswendig sondern inwendig gelernt vorzutragen verstand. Es kam so leicht nicht vor, daß irgend jemand in der Boruyer Gemeinde ohne als Wegstärkung das heilige Abendmahl empfangen zu haben, starb. Das war neben den Begräbnissen und (?) auch der Hauptgrund der vielen Ausfahrten. Bei solchem Abendmahl pflegte dann die ganze Nachbarschaft und Verwandtschaft möglichst teilzunehmen und die kleinste ärmlichste Häuslerstube wurde zu einem Tempel Gottes. Marthas klares Auge sog auch dieses Bild für das ganze Leben ein und hat es bis sich ihr die goldenen Tore der Ewigkeit öffneten, immer verstanden in den schwierigsten Verhältnissen und Umgebungen ein Stück heiliges Land zu schaffen. Und auch das war ein Erbe des Vaters, das solche Feierstunden der Seele nur selten dem Auge sichtbar wurden und niemals das Aussehen einer abgegriffenen Münze bekamen. Die Stunde, auch die des Alltags, hatte immer ihr Recht. Vater und Tochter nahmen es beide auch mit den kleinen Alltagspflichten sehr genau.

Boruy – Kirche / Auschnitt aus Ansichtskarte, Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Herrn A. Kraft

Damals aber stand er in der frischesten Manneskraft auf seinem arbeitsreichen Posten, aber im Schatten der alten Linde durfte auch er mit den Seinen oft zu gar traulicher Rast ausruhen. Wir wollen diesem gemütlichen Plätzchen, wo sich im Sommer das ganze Leben des Tages abspielte im Boruyer Pfarrhaus auch einmal einen Augenblick besuchen. Als Postlers in Boruy ihren Einzug hielten, hatten die Leute gesagt: „Ach, die Frau Pastor ist gar nicht mitgekommen, nur eine schöne alte Dame und ein wunderschönes junges Mädchen.“ Dass dieses zierliche Wesen mit den blitzenden blauen Augen, den lebhaften aber nie unschönen Bewegungen, dem sprechenden Minenspiel und dem Kinderfigürchen die Mutter von drei Kindern sein konnte, glaubte man einfach nicht und es war auch wirklich schwer es zu glauben. Wenn man sie aber gesehen hätte, wie sie ihre inzwischen noch vermehrte Schar betreute und besonders das Kleinste aus seinem Wagen nahm und es nach der jungen Mütter Art herzte und küsste, der hätte es schon eher geglaubt, besonders wenn man auf die dumpfe Jungenstimme im Hintergrund hörte, die eine Art Kassandraweisheit auskramte: „Warte nur Hedel, jetzt tut die Mama so, wenn du aber wirscht dei Jahre sein wie ich, kriegscht du auch Haue.“ Ja, die zarte Hand der jungen Pfarrfrau wusste, wenn es not tat, und bei dem einzigen Sohn tat es halt manchmal not, auch zur rechten Zeit zuzuschlagen, war aber dann, wenn sie wirkliche Reue sah, auch bald wieder ausgesöhnt. Der Herr Bruder hatte sich übrigens gar nicht an den ihm sonst fremden Namen Hedwig gewöhnen können, dagegen war unter den zahlreichen ihm bekannten Kutschern der Nachbarschaft ein gewisser Ludwig, der ihm besonders nahe stand. Da hatte er zuerst immer nicht aufgehört zu fragen: „Heischt sie Hedwig oder Ludwig? Nicht wahr, sie heischt Ludwig.“ Eine andere Sorge bedrückte trotz der sonnigen Kinderheimat ihr nun folgendes (?) Fräulein Gretel. Sie kam oft, den Finger in die Augen ge… (?) heulend angerannt: „Ich fürchte mir so!“ „Ja, wovor fürchtest du dich?“ „Vor dem Deibel.“ Man muss dabei .. (Drei Zeilen sind mit der Hand nachgetragen und schwer zu lesen.)

Sehr ausgiebigen Gebrauch konnte Pfarrer Postler von dem ihm zustehenden Hand- und Spanndienst in der Boruyer Gemeinde machen, auch wenn es sich um einen Besuch bei den benachbarten Pfarrern oder Gütern handelte. Da war es besonders das freundliche Neutomysl, das liebliche Alt Jasterzcemzky, später mit dem schönen deutschen Namen Friedenshorst benannt, wo Vater, Mutter und Kinder zuweilen zu ein paar schönen Feierstunden auf dem leichten polnischen Wagen durch die freundliche Landschaft hinglitten. Unter dem aus China heimkommenden Nachlass Martha Postlers fanden sich auch unzweifelhaft einige schöne (von ihr gemalten) Landschaften aus jener Gegend, die so oft törichterweise als reizlos verschrieen wird und doch so viel des Anmutigen und Schönen bietet. Diese lauschigen Erlenhänge, die freundlichen Buchen- und Kiefernwälder, lachende Wiesen, wallende Kornfelder, in denen allerdings eine dem Landwirt nicht angenehme Blumenbuntheit vorherrschte. Namentlich mit Bäumen bestandene Wiesen boten wohl dem werdenden Künstlerauge manch anregendes Bild. Die innigste Freundschaft verband das Friedenshorster und das Boruyer Pfarrhaus, namentlich als das Friedenshorster, wo Pastor Illgner als Witwer hauste, wieder eine liebe frische Pfarrfrau bekam. Die feinsinnige Berlinerin hatte bald eine besondere Vorliebe für Martha Postler mit dem zierlichen schlanken Figürchen, dem klugen Gesicht und der lieblichen Stimme gefasst. Ich entsinne mich, dass einmal, als schon der Wagen angespannt war, um die lieben Illgners wieder von uns fort zu führen, die tatkräftige Frau Pastor noch schnell den Flügel aufschlug. „Nein, erst muss Martha mir noch etwas vorsingen.“ Und Martha trat ohne jede Ziererei an das Instrument und ich meine sie noch singen zu hören das liebliche Spittasche Liedchen:

  • Du schöne Lilie auf dem Feld
  • Wer hat in solcher Pracht
  • Dich vor die Augen mir gestellt
  • Und dich so schön gemacht.

Selber wie eine zarte feine zarte Lilie stand das sinnige Kind dabei da. Es war auch bezeichnend für sie, dass sie an wilden Spielen, obgleich sie ja nur wenige Jahre älter als ich war, die ich mit dem Bruder durch Dick und Dünn ging, nie teilnahm. Bruder Kurts Spiele waren allerdings nicht die sanftesten und ich entsinne mich, dass nach einem Besuche von Illgners, wobei sich schon vorher allerlei finstre Dramen im Hintergrund abgespielt hatten, die gute Wanda, unser langjähriges Mädchen, kopfschüttelnd mit Besen und Aufnehmer erschien und die im Verlaufe gelieferten Stubenschlachten ausgerissenen Haare der beiden treuen Freunde Paul Illgner und Kurt Postler zusammenfegte. Ein andermal hatten die stolzen Mütter beobachtet, wie Paul, der übrigens meines Wissens jünger war, seinen Busenfreund, etwas ungastlich in ein dunkles Zimmer gesperrt hatte, von Zeit zu Zeit die Tür einen Ritz öffnete und die erschütternde Frage hinein schmetterte: „Willschte nu  Bahnwärter sein?“ Auf das entrüstete „Nein“ flog die Türe wieder zu. Das war damals als die feinere Kultur auf  blanken Schienen uns näher rückte in die weltverborgene Einsamkeit dieses Stückchens Ostmarck. Da wollte aber eben jeder tüchtige Junge lieber pfaffend und rauchend heranschnaubende Eisenbahn sein als so ein zahmer mit einem Winkestock oder Fähnchen dastehende Bahnwärter. Übrigens versöhnten sich trotz dieser begreiflichen Meinungsverschiedenheiten die beiden Freunde immer wieder und namentlich gegen meine Mutter zeigte der handgreifliche Paul grosse Vorliebe. So empfing er sie einmal, als sie eben erst im Begriff war, vom Wagen zu steigen, mit der liebevollen Einladung: „Willschte mal meine neuen Höschen sehn?“ Da unsere gute Mutter viel lebhaften Schönheitssinn ebenso wie eine gute Dosis Humor besass, liess sie sich das natürlich nicht zwei mal sagen. Nicht ganz dieselbe aber eine ähnliche Hosengeschichte gab es von dem würdigen Herrn Pfarrer, eine manchmal etwas versonnene Gelehrtennatur, der einmal seinen jüdischen Kaufmann in begreifliches Erstaunen versetzte , indem er Glans und englisch Leder verwechselte und treuherzig versicherte: „Ja, im Sommer pflege ich glanzlederne Hosen zu tragen.“

Ganz eigentümlich war es, dass jeder von uns bei Illgners auf seine Kosten kam. Die beiden Pfarrer konnten sich so recht über Amt und öffentliches Leben, über Kunst und Wissenschaft, aussprechen und waren beide leidenschaftliche Schachspieler. Die Frauen verstanden sich ebenso gut, aber beide meinten auch, dass es mit dem Schachspiel oft vom ersten Augenblicke an bis zum letzten, wo man manchmal schon, in Tücher und Mäntel gehüllt, warten musste auf das endlich erlösende Matt, doch ein bisschen des Guten zu viel sei. Es kam ihnen der geniale Einfall: Wir verstecken einmal das verlockende Spiel. Gesagt, getan. Aber einmal und nie wieder. Denn statt zu spielen wie sonst, oder sich liebenswürdig mit den Damen zu unterhalten, suchte man mit vereinten Kräften, bis die beiden nun doch nicht in ihrer Schlauheit Siegenden kleinlaut das vermisste Spiel finden halfen.

Für Martha war ein gleichaltriges Lenchen und für mich ein originelles Namensschwesterchen da,  von dem ich auch einen kleinen Scherz erzählen möchte, der namentlich meiner Martha so sehr viel Spass machte. Ich höre noch jetzt das herzliche Lachen darüber. Liesel besass eine bewunderungswürdige Seelenruhe. Einmal spielte sie in der Nähe des Hofes, wo ein junges Kälbchen sich wohl zum ersten Male in der Sonne tummeln durfte. Zugleich etwas entfernter ging Pastor Illgner seine Predigt memorierend auf und ab. Zwischen seinem Gedankengang klingt ein eigentümlicher Singsang seiner Zweiten. Da er auch etwas Träumerisches hatte, achtete er erst gar nicht darauf. Auf einmal fiel ihm ein: Was murmelt Liesel eigentlich immer vor sich hin? Er horcht hin und vernimmt den schönen Monolog: „Das Kalb ist in die Düngergrube gefallen. Das Kalb ist in die Düngergrube gefallen.“ Das unglückselige Vierbeinchen, das von seiner ersten Freiheit so schlechten Gebrauch gemacht hatte, wurde übrigens dann doch noch, ohne die junge Philosophin bei ihrem ruhig fortgehenden Puppenspiel zu stören, von anderen tatkräftigen Händen gerettet.

Illgners so wohl wie wir besassen aber noch andere nützliche Haustiere, so auch die gemütlichen Hühner, die die angenehme Eigenschaft hatten, tüchtig Eier zu legen. Um Ostern herum half dann noch der beliebte Osterhase mit schön buntgefärbten Zucker- und Chokoladeneiern nach und am 2. Feiertag ging es unfehlbar nach Friedenshorst, wo schier kein Krokus, kein Grasbüschel zu sehn war, worunter nicht ein neugieriges Osterei hervorlugte. Übrigens war schon die Fahrt dahin ein Fest. Da war ein so furchtbar sandiger Weg, dass die armen Pferde unsägliche Mühe hatten, den Wagen hindurchzupflügen und mit ein bisschen Neid sah man dicht daneben eine schmale Strasse in den Tann münden, auf der aber nur die Post fahren durfte. Dann gab es einen ungeheuer bissigen Hund, der jedesmal wütender, wie es schien, aus einem Gehöft herausflog und uns alle am liebsten schien verschlingen zu wollen. Da das nicht gut ging, verfolgte er uns mit wahnsinnigem Bellen bis dahin, wo ein Bild des Friedens das mit Jubel begrüsste Haus mit dem Storchenneste uns grüsste. In dieser Gegend wohnen die Deutschen nämlich noch nach altgermanischer Sitte am liebsten auf ihrem eigenen Grund und Boden und sind um Kirche, Pfarre und Schulhaus häufig nur Flecken gebaut, ein par Läden und Schenken. Das andere findet sich in der Umgebung zerstreut, so dass man immer wieder an menschlichen Wohnstätten vorüber kommt. Seltsamerweise sind die schönen grünen Hopfengärten meist mit Holzzäunen eingefasst. Sehr malerisch machen sich die erlenbestandenen, mit Vergissmeinnicht und Wasserräusen geschmückten Bäche und Weiler und die vielen mit buntestem Blumenschmuck umsäumten Gräben. Dazwischen Buchen- und Tannenwälder, anmutig mit Bäumen bestandene Wiesen, eine davon habe ich deutlich im Nachlass von Schwester Martha von solcher Fahrt her wieder erkannt.

Nicht bloss der Sommer, auch der Winter bot seine reichen Freuden in Boruy. Da war vor allem das lichtstahlende Weihnachtsfest, das ich nirgend auf der Welt schöner als dort in dem weltverlorenen Flecken des fernen Ostens gefeiert habe. Gegenüber der Pfarre lag, gleichfalls im Lindenschatten, das trauliche Kantorhaus. Sehr kinderliebe aber kinderlose alte Leutchen hausten dort und Ströme des Segens gingen auch von dort aus auf die Gemeinde und nicht zuletzt wenigstens auf das Pfarrhaus, mit dem man in herzlichster Freundschaft verbunden war. Was es Frohes oder Trübes gab, immer hiess es in wichtigen Fällen: Wir wollen den Herrn Kantor rumholen. Und er wusste fast immer Rat, ob ich, wie es mir einmal geschah, den einzigen Ring, den ich je besessen, verschluckte, ob Kurts Nase nach einem Sturze von einem allzu waghalsig erkletterten Baum so blutete, dass es gar nicht aufhören wollte, ob Hedel sehr argen Husten oder Gretel die Masern hatte. Alle Not des Lebens wurde leichter, alle Freuden grösser, wenn es mit dem klugen Herrn Kantor besprochen wurde.

Auch mit dem andern Lehrerhause verband uns die herzlichste Freundschaft. Bei Remussens war freilich die Zahl der Kinder sehr gross und es ergab sich, dass bei den kunstvollen Chören, die der Herr Kantor besonders zu Weihnachten einübte, in jeder Stimme einer oder mehrere von Remussens dem Ganzen Halt geben konnten. Wie das aber auch immer eingerichtet werden mochte, eins war sicher: Marthas heller klare Sopran musste ein Solo singen. Wie höre ich noch heute ihre liebe Stimme, wie sehe ich noch ihre schlanke Gestalt sich über die Brüstung des Chores neigen, den wunderschön ausgemalten Quempas in der Hand. Es wäre uns als eine Herabwürdigung des Heiligsten vorgekommen, hätte man zu Weihnachten aus einem gedruckten oder schlicht geschriebenen Buche gesungen. Die ganze Weihnachtsfeier baute sich auf den alten Choral „Dies ist der Tag, den Gott gemacht“ auf. Zwischen jedem Vers war ein Stück Liturgie oder ein Lied eingefügt. Der Choral selbst wurde möglichst fein und bunt mit sogenannter illuminierter Schrift ausgemalt, das Übrige mit sauberster Schönschrift beigefügt. In meinem Besitz befindet sich noch so ein Quempasblatt aus jenen Zeiten mit einem Choralvers und dem lieblichen Liede: „Zu Bethlehem geboren“. Unendlich viel Fleiss und Mühe verwandte der kunstsinnige Herr Kantor an seinen Chor. Er war aber auch in der ganzen Provinz Posen berühmt. Bei der damals verhältnismässigen kleinen Zahl der damals bekannten Liederbücher war das meiste an Stoff wohl nur durch Abschreiben beschafft. Das war aber eine ganze Fülle des Schönen und Lieblichen. Und lieblich wurde es auch gesungen. Lange lange Jahre später hat die Blindenmutter in Tsau kwong noch als treue Schülerin des Boruyer Kantors ihre Weihnachtsfeiern, bei denen die verschiedensten Völker zugegen waren, noch nach den Erinnerungen ihrer Kinderzeit sehr geschickt zur Andacht vieler zusammengestellt. Ja, sie hat auch bei der äusseren Ausschmückung an Boruy gedacht. Mit wenigen Mitteln wurde dort viel erreicht. Eine solche Lichterfülle als in der Boruyer Kirche zum Heiligenabend sah man so leicht nicht wieder. Man kam gleich familienweise und auch das kleinste Kind musste sein eigenes Licht haben. Es war dann so voll, dass Vater sich mühsam seinen Weg zum Altar bahnen musste, da jeder Platz in Anspruch genommen war. Auf den Chören standen Transparente mit Bibelsprüchen, die zugleich Lichtpyramiden waren und jedes der weissen Lichte war mit einem bunten Seidenbande umwunden. Ich sehe noch die geliebte Gestalt meines Vaters im Amtskleide aus dem Lichtermeere sich am Altare heben, höre seine herrliche klare Stimme mit den unvergänglichen Weihnachtsworten zwischen Sang und Klang, Marthas schmetternden Sopran, der an Engelsang erinnerte. O du wunderliebliches Weihnachtsfest, wie hast du dich im stillen Boruy so wunderschön offenbart.