Am Dienstag, den 17.05.2011 am Mittag trafen Frau Henkel, Frau Timm und Frau von Strassmann mit dem Zug über Frankfurt/Oder in Nowy Tomysl ein. Sie hatten ihren 3-tägigen Aufenthalt in der Stadt vor einigen Wochen geplant und nun war es soweit – sie wollten nochmals auf den Wegen ihrer Kinder- und Jugendzeit spazieren gehen.
Herr Przemek Mierzejewski hatte sich erboten als „Reiseführer“ tätig zu sein und sie an die Orte ihrer Kindheit zu fahren. Zu ihrer großen Überraschung war auch Frau Gudrun Tabbert in der Stadt um ebenfalls gemeinsam mit ihnen die Tage in Nowy Tomysl zu erleben. Beide führen gemeinsam diese Internetseite über die Geschichte der Stadt Nowy Tomysl/Neutomischel und deren Umgebung, dem Tomischler Hauland.
Nach einer kurzen Begrüßung am Bahnhof ging es zum Hotel und nach einer kleinen Ruhepause wurde am Nachmittag der erste Rundgang im Nowy Tomysl’er/Neutomischler Stadtzentrum unternommen. Ein allererster Besuch galt dann dem katholischen Friedhof der Parochie Nowy Tomysl, hier wurden die Gräber der schon verstorbenen Freunde aus früheren Tagen besucht und ihrer gedacht.
Bei Kaffee, Kuchen und Eis im „Kachlicki-Caffe“ in der Hauptgeschäftsstraße, der Mickiewicza (früher Goldstraße) wurden dann die Pläne und Wünsche für die nächsten Tage ihres Aufenthaltes besprochen.
Der frühe Abend dieses ersten Tages war dann reserviert für einen Besuch bei einer langjährigen Bekannten.
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Am Mittwochmorgen, den 18.05.2011 startete dann die kleine Rundreise. Das erste Ziel galt den Erinnerungen der Frau von Strassmann.
Ihre Familie hatte früher in Neutomischel gewohnt; ihr Vater war der Besitzer der Fleischerei Kott gewesen. Sie war mit ihren Eltern, nachdem sie die Jugendzeit in der Stadt Neutomischel verbracht hatte, 1940 nach Rothenhof dem heutigen Czerwony Dwór bei Bentschen/Zbaszyń übersiedelt. Die Fahrt ging also in Richtung der Stadt Zbaszyn, in der Ferne waren schon die markanten beiden Türme der katholischen Kirche erkennbar, sie waren aber nicht das Ziel der Fahrt. Am Stadtrand wurden die Gleise der Eisenbahnlinie überquert und unmittelbar danach links abgebogen. Die zuerst noch an beiden Seiten der asphaltierten Straße gelegenen Häuser blieben bald hinter uns zurück; der Straßenbelag allerdings auch. Der etwas holprige Weg führte schnurgerade durch die Wiesen und Äcker auf ein paar in der Ferne stehende Häuser zu. Frau von Strassmann erzählte uns, dass der Weg früher schon ebenso ausgesehen habe, nur – die Löcher seien noch tiefer gewesen – dieses wiederum löste ein allgemeines Gelächter aus.
Frau von Strassmann erinnerte sich, dass die Kinder der Ansiedlung diese Strecke, ca. 2-3 km, für ihren Schulweg zu Fuß zurück gelegt hatten und nicht so bequem mit dem Auto wie wir jetzt. In der Frühe hatte es seinerzeit zwar die Gelegenheit gegeben den allmorgendlichen Milchwagen, der in die Stadt fuhr zu nutzen, aber spätestens mittags hieß es für den Nachhauseweg die Strecke zu Laufen.
Wir waren nun auf einem kleinen Platz angelangt und parkten das Auto um uns an diesen Ort umzuschauen. Frau von Strassmann erklärte uns, dass die roten Backsteinbauten vor denen wir nun standen, die ehemaligen Häuser der Angestellten, die so genannten Insthäuser des Hofes waren.
Hier hatten sie gelebt und z. B. das ihnen als Deputat zugestandene Schwein für ihren Eigenbedarf versorgt und gemästet und tagsüber die Arbeit auf dem Gut erledigt.
Wir gingen den Weg weiter – links steht ein noch nicht altes Haus und rechts nach einer Wiese entsteht gerade ein weiteres. Frau von Strassmann hatte gewusst, dass vom alten Wohngebäude ihrer Kindheit nichts mehr erhalten war, es war vor Jahren abgerissen worden. Vor ihren Augen entstand es jedoch noch einmal neu. Als dann an einem aufgeschütteten Erdwall noch Reste des ehemaligen Fundamentes des Wohnhauses erkennbar waren, gehörte ihren ganz persönlichen Erinnerungen ein kurzer Moment. Als es weiter ging, erfuhren wir wo die Stallungen und die Scheune gestanden und wo der Schinken gehangen hatte. Sie beschrieb uns wo der Obstgarten, einige der Bäume standen noch, gewesen war und wo die Blumenwiese; die Freude eine uralte Kastanie auch heute noch am Wege stehend vorzufinden war groß.
Frau von Strassmann war sehr glücklich darüber, dass nun an diesem Ort, an dem sie ihre Kindheit verbracht hatte, der ihrem Vater so sehr viel bedeutet hatte und den sie zerstört und mit brach liegenden Feldern vor ihren Augen gehabt hatte, wieder Familien wohnen, die ihm und dem Land eine Zukunft und wieder einen Sinn geben. Sie war sehr erleichtert darüber, dass das ihr immer vor Augen gewesene Bild der Zerstörung nun durch die Bilder dieses Besuches ersetzt werden und die Zukunft auch an diesem Ort ihren Lauf nimmt.
Nach einem letzten Blick, einem Abschiedsblick über Alles, entschied Frau von Strassmann, dass die Fahrt nun weitergehen konnte.
Wir fuhren den holprigen Weg zurück und wie bestellt, um die Reise in die Erinnerung noch einmal zu unterstreichen, schalteten die Warnlichter des Bahnüberganges auf Rot und eine alte Dampflok fuhr auf den Gleisen in Richtung Zbaszyn.
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Es ging zurück in Richtung Nowy Tomysl. Am Gedenkkreuz auf dem ehemaligen evangelischen Friedhof in Zinskowo/auch Friedenwalde (1901-1919) dem heutigen Sękowo erfolgte der nächste Stopp. Die drei Besucherinnen, die sich über die Herrichtung dieses Geländes als Ort der Erinnerung sehr freuten, gedachten ihrer hier vor vielen Jahren beerdigten Familienangehörigen und überhaupt derer, die hier zu ihrer letzten Ruhe gebettet worden waren.
Der Friedhof Sekowo war im Jahr 2009 einer der ersten Friedhöfe auf dem ein Gedenkkreuz zum An- und Gedenken des hier gewesenen evangelischen Friedhofes errichtet worden war (s.a. Artikel – Stadtpark 24. September 2009 16:00 Uhr Nowy Tomysl ). Diese seinerzeit von Herrn Przemek Mierzejewski ins Leben gerufene Initiative, die seitens der Stadtamtes von Nowy Tomysl die finanzielle Unterstützung zur Durchführung gefunden hatte und noch findet, wird auch in diesem Jahr wieder durchgeführt. Im Jahr 2009 waren neben dem Gedenkkreuz in Sękowo/Friedenwalde weitere in Paproć/Paprotsch, Przyłęk/Scherlanke und Glinno/Glinau errichtet worden; 2010 waren auf den Friedhöfen in Stary Tomyśl/Alttomischel, Lipka Mała/Klein Lipke, Kozie Laski/Kozielaskie, Grubske/Grubskie ebenfalls Gedenkkreuze errichtet worden ( s.a. Artikel – „Uns alle verbindet Vergangenheit, Gegenwart und der Glaube an einen gemeinsamen Gott“ ; für dieses Jahr 2011 ist die Errichtung dieser Geste des Gedenkens durch die großen Kreuze mit dem Bibelspruch auf ihren Sockeln, auf den ehemaligen evangelischen Friedhöfen in Nowa Róża/Neu Rose, Bukowiec, Cicha Góra/Chichagora und Chojniki/Kunik vorgesehen.
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Blick von dem auf einer Anhöhe liegenden ehemal. Friedhof Cicha Góra/Chichagora über die Hopfenfelder – Aufn. 05/2011
Weiter ging die Fahrt nach Cicha Góra/Chichagora. Frau Timm, deren Heimatgegend nun besucht wurde, bat am Ortseingang anzuhalten. Sie wollte einem kurzen Blick auf den, einem Hopfenfeld gegenüber, auf einer Anhöhe gelegenen ehemaligen evangelischen Friedhof werfen. Hier ist noch kein Kreuz aufgestellt, als sie jedoch hörte, dass auch dieser Friedhof noch in diesem Jahr im September dieses Zeichen des Gedenkens erhalten solle, war sie hocherfreut. Von Gräbern ist heute zwar auf dem Gelände nichts mehr zu erkennen, nur die unendliche Zahl von Maiglöckchen, die den Boden überziehen, deutet darauf hin, dass hier einmal Gräber angelegt gewesen waren. Trotzdem oder gerade vielleicht deshalb ist diese handreichende Geste des Aufstellens der Kreuze durch die heutigen Bewohner und somit die Möglichkeit für Besucher, seien es ehemalige Bewohner selbst oder deren Nachfahren, die den Spuren ihrer Ahnen folgen, einen Moment der Besinnung zu finden, von unschätzbarem Wert. Selbst Fremde finden an diesen Plätzen einen Ort der Ruhe und Besinnung.
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Und wieder ging die Fahrt weiter, es wurde links abgebogen, vorbei an mehreren Häusern die dem Streudorf zugehörig sind. Chicha Góra ist wie so viele andere Orte der Gegend eine ehemalige Hauländersiedlung. Die Anwesen liegen sehr verteilt in der Gegend, früher waren sie von den, den Gehöften zugehörigen Wiesen und Äckern umgeben, wer sich ein geschlossenes Dorf vorstellt, liegt falsch. Eigentlich bezeichnet der Name Cicha Góra mehr eine Gegend mit einer wie in die Landschaft „getupften“ Ansammlung von Häusern. Wir fuhren vorüber an Weiden mit Pferdestuten und ihren Fohlen. An immer wieder vereinzelt darliegenden Anwesen.
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Inmitten dieser Natur steht eine neue Anlage zur Erdgasgewinnung – Vergangenheit und Gegenwart auch hier als unmittelbare Nachbarn. Diese Anlage muss sein, sie ist ein Teil der heutigen Energiegewinnung und doch – in dieser Idylle der alten Hauländer-Landschaft wirkt sie wie ein Fremdkörper. Es steht zu hoffen, dass man diese Areale vielleicht durch Anpflanzungen von Weiden und oder anderen Bäumen „unsichtbarer“ in die Landschaft integrieren wird. Frau Timm erklärte uns, dass diese Anlage auf einer Weide, die dem ehemaligen früheren Hof ihrer Familie, zugehörig war, steht.
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Frau Timm wies uns den Weg nach rechts auf ein etwas zurückliegendes Anwesen. Hier war nun der Ort ihrer Kindheit. Wir stiegen aus und sahen uns um. Frau Timm erklärte uns, dass viele der Felder und Wiesen, die seinerzeit das Anwesen umgeben hatten, heute von dem Wald zurück erobert seien, so nah wie heute wären die Bäume den Wohngebäuden nicht gewesen. Auch von ihr und ihren Geschwistern waren die Wege ab hier, also gute 5 km, nach Neutomischel immer zu Fuß zurückgelegt worden. Sie erklärte uns, dass ein Graben, der am Grundstück entlang verlaufen war und ihr in ihrer Kinderzeit als Spielplatz gedient hatte, längst nicht mehr zu erkennen ist. Die heutige Besitzerin des Hofes erklärte, dass die Ländereien schon vor vielen Jahren verkauft worden seien und nicht mehr dem Anwesen zugehörig seien – Landwirtschaft würde nicht mehr betrieben werden, dieser Hof hat heute somit nun nicht mehr die ihm eigentlich zugedachte Bestimmung. Frau Timm war ein wenig hin und hergerissen zwischen dem was ihr in Erinnerung geblieben war und dem wie es an diesem Ort nun heute aussah. Aber auch sie wünscht der Familie mit ihren Kindern alles Gute für die Zukunft in dieser Zeit der großen Wandlungen.
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Das nächste Ziel war der im Wald gelegene ehemalige Friedhof von Albertoske (heute Albertowsko). Frau Timm hatte erfahren, dass Herr Przemek Mierzejewski bei der von ihm durchgeführten Katalogisierung der Friedhöfe und der darauf noch erhaltenen Grab- und Gedenksteine (http://www.oledrynowotomyskie.e7.pl/cmentarze) einen sehr gut erhaltenen mit dem Familiennamen Timm gefunden hatte. Nun war sie ganz aufgeregt diesen Grabstein der Eheleute Gottlieb Dienegott Timm (geboren 1850, gestorben 1922) und dessen Ehefrau Johanna Beata Tepper (geboren 1849, es ist kein Todesdatum eingemeisselt) in Natura zu sehen; waren es doch auch Vorfahren ihrer über Jahrhunderte, nachweislich seit ca. 1740, in Chichagora und Albertoske ansässig gewesenen Familie, die hier beerdigt worden waren.
Auf diesem in der Einsamkeit des Waldes gelegenen Friedhof wurde ein Moment der Ruhe, der Besinnung und des Rückdenkens, des Erinnerns eingelegt.
Das Staunen, dass noch Reste eines Friedhofes erhalten waren, dass dieser nicht eingeebnet worden war, war ebenso groß wie die Freude darüber diesen besucht zu haben.
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Weiter ging es über Kąkolewo (früher Konkolewo). Hier fand ein kleiner Zwischenstopp statt – Herr Tadeusz Bukiewicz stand zufällig gerade an der Straße. Er begrüßte die drei Reisenden und es fand eine kleine kurze Unterhaltung bunt gemischt in Polnisch und in Deutsch statt. Herr Bukiewicz hat auch Erinnerungen an die Stadt Nowy Tomysl, er war vor vielen Jahren auch einmal ein Einwohner dieser gewesen.
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Nun steuerte Herr Mierzejewski den ehemaligen Friedhof in Juliana/Julianka an. Über die Kolonie Juliana ist heute kaum etwas Geschichtliches zu finden, oft erinnert man sich noch nicht einmal mehr das es diese Siedlung überhaupt gegeben hat ( „Ein Grabstein – Colonie Juliana / Julianka … und viele Fragen„). Der Friedhof ist wieder einsam im Wald gelegen, kaum zu erahnen und doch erhalten. Die Besucherinnen waren wiederum vollkommen fasziniert davon diesen Platz zu besuchen. Zu Ihrem Erstaunen stellten Sie fest, dass vor ihnen schon ein Besucher dagewesen sein musste – auf jedem im Unterholz versteckten Grabstein fanden sich frisch gepflückte und abgelegte Blümchen.
Wieder wurden die Inschriften auf den ab und an erhaltenen Grabsteinen, sie sind meist um die100 Jahre alt, entziffert. Es ist einfach faszinierend diese Erinnerungs- und Gedenksteine, die auch als ein Symbol der alten Hauländerbesiedlung in der Gegend um Neutomischel gelten, heute noch vorzufinden.
Es wurde von allen Besucherinnen großer Dank darüber zum Ausdruck gebracht, dass sie diese Ihnen unbekannten Plätze gezeigt bekommen haben, aber auch dafür, dass man diese Friedhöfe erhält. Mit und durch die Plätze öffnet die Vergangenheit ein kleines Fensterchen für uns um aus dem Hier und Heute zurückzuschauen. Es ist wert, ja eigentlich ein Muss, dieses auch für unsere Nachfahren zu erhalten um auch ihnen die so interessante Geschichte der Hauländerbesiedlung, der gemeinsamen Vergangenheit der Polnischen und Deutschen Bevölkerung aufzuzeigen.
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Die Fahrt ging weiter über Bukowiec, hier wurde nur eine kleine Schleife bis zur berühmten Holz-Kirche „St. Martin“ (erbaut 1737-1742) / Kosciol Swietego Marcina gefahren um vom Auto aus einen kleinen Blick zur Erinnerung an frühere Besuche auf diese zu werfen.
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Nun ging es erst einmal zurück nach Nowy Tomyśl. Es waren viele neue Eindrücke und vielleicht noch mehr Erinnerungen auf die drei Damen eingestürzt, die jedoch nicht verhindern konnten, dass es an der Zeit war dem „knurrenden“ Magen etwas Gutes zu tun.
Wir kehrten im Restaurant „Sandra“ dem früheren „Schwarzen Adler“ oder eigentlich richtiger „Goldenen Adler“ ein. Piroggen (Pieroggi), eines der bekanntesten und leckersten Speisen in Polen, war eines der Gerichte, das ausgewählt wurde – ein Essen aus unserer Kindheit wie uns alle drei Besucherinnen versicherten, „unsere Mütter haben es immer selbst zubereitet und schon als Kinder haben wir es gern gegessen“.
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Nach dem Essen ging man für diesen Tag auseinander. Jedoch erfuhren wir, dass die Damen später am Abend noch einen weiteren Spaziergang in der Stadt ihrer Kindheit und Jugend unternommen hatten. Frau Strassmann, sie streifte nicht nur am Abend sondern auch schon früh am Morgen durch die Straßen, schwärmte geradezu vom Weg am Landgraben entlang. Als Kinder war an ihm natürlich immer gespielt worden und später hatte sie dort mit ihrer Freundin gesessen und sich ihre Zukunft ausgemalt, nichts ahnend was tatsächlich auf sie zukommen würde. Schade war lediglich, dass doch allerlei Unrat im Wasser lag und diese grüne Stadtoase noch nicht von Allen als eine solche erkannt ist.