Liebe Leser unserer Seite – dies ist der erste Teil der 1899 von Dr. Tr. Stäsche, Königshütte O.-S. 1899 verfassten und veröffenlichten Arbeit :
„Kleinstadtbilder aus Rakwitz und Grätz in den letzten Jahrzehnten des polnischen Reiches“
– Eine Untersuchung über die Flegelschen Chroniken und ein Beitrag zur Geschichte der evangelischen Kirche zu Grätz –
Der Beitrag wurde abgedruckt in der „Zeitschrift der Historischen Gesellchaft für die Provinz Posen“ – welche herausgegeben wurde durch Rodgero Prümers – 14. Jhg. – 1899.
(Quelle: http://ia600307.us.archive.org/12/items/zeitschrift1314histuoft/zeitschrift1314histuoft.pdf)
Die angesprochenen Flegelschen Chroniken werden im Staatsarchiv von Poznan verwahrt. Der hier wiedergebene Text ist die intensive Auseinandersetzung dieser Aufzeichnungen durch den Dr. Tr. Stäsche. Seine Arbeit befasste sich, teils unter sehr kritischen Betrachtungen, mit diesen Geschichtserinnerungen. Neben den Flegelschen Chroniken wurden zur Vervollständigung, auch die später verfassten Chroniken der Pastoren Roehl und Fischer zur Wiederentstehung der evangelischen Kirche zu Grätz herangezogen.
Nach Lesen aller Teile dieses Beitrages betrachtet man spätere Aufzeichnungen z. B. den Artikel unter : http://oledry.pl/de/gratz-der-beginn-als-evgl-parochie/ mit anderen Augen . . .
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Einleitung
1. Bedeutung der Flegelschen Chroniken
Im Jahr 1863 erschienen zu Grätz die „Gedenkblätter für die Evangelische Gemeinde U.A.C. zu Grätz“, welche der damalige Pastor dieser Gemeinde und spätere Superintendent G.W. Theodor Fischer herausgegeben hat. In diesen wird neben der Chronik, welche der Erbauer der Grätzer Kirche, Pastor Roehl, verfasste, vielfach die Flegelsche Chronik erwähnt, die Fischer auch reichlich benutzt hat (S. 15 ff). Sie enthält die Geschichte der evangelischen Gemeinde zu Grätz seit dem Jahre 1760 und ist im Jahre 1839 von dem Oekonomiekommissarius und Posthalter Johann Samuel Flegel verfasst, der 1848 in Grätz im Alter von 83 ½ Jahren starb, und an den sich dort das ältere Geschlecht noch wohl erinnert. Durch Fischers Gedenkblätter ist die Kunde von dieser Chronik auch in weitere Kreise der Grätzer evangelischen Gemeinde gedrungen.
Daneben ist noch eine andere Flegelsche Chronik vorhanden, die ich neben kleineren Schriftstücken im Jahre 1895 in den Kirchenakten entdeckte, welche mir Herr Pastor Haedrich zur Durchsicht übergeben hatte. Diese Chronik hat Fischer nicht gekannt, wenigstens hat er sie nicht benutzt, und es scheint, als ob von ihr bisher niemand in Grätz Kenntnis hatte. Da die Chronik Johann Samuels in zwei Exemplaren vorhanden ist, so hat man die andere bei oberflächlicher Betrachtung wahrscheinlich auch für eine Abschrift desselben Werkes gehalten. Diese zweite Chronik enthält im Gegensatz zu der ersten eine Geschichte der Familie Flegel, und ihr Verfasser ist Karl Ehrenfried Flegel, Kaufmann zu Grätz und verdienstvoller Mitbegründer der Kirche, der bedeutend ältere Vetter des jüngeren Chronisten.
Sein Leben fiel in eine sturmbewegte Zeit, wo Polen von wilden, inneren Kämpfen zerrissen wurde, das Ansehen und die Macht der Krone völlig verschwunden war, und das Reich seiner Auflösung entgegeneilt. Unter den wüsten Zuständen hatte er selbst schwer zu leiden, und besonders verhängnisvoll wurde ihm die Feindschaft des Generals von Radonski, der die Güter des Fürsten Czartoryski in Grätz und der Umgegend als Generalbevollmächtigter verwaltete. Der Hass des Generals traf zugleich auch die evangelische Gemeinde, mit der Flegel eng verbunden war. Dieser verfocht seine und der Gemeinde Sache zwar auf das tapferste gegen Radonski und verfolgte und vertrat mit deutscher Zähigkeit und Hartnäckigkeit sein gutes Recht; aber es fehlte dem Reiche an einem mächtigen Schützer des Rechtes, und darum musste Flegel im ungleichen Kampfe unterliegen. Er wurde durch Radonski um Haus und Hof gebracht, musste Grätz verlassen und fand auf dem Gute Borowo bei Kosten, dessen Besitzer auch Protestant und mit ihm eng befreundet war, Zuflucht und Schutz, bis er nach langen Jahren wieder in die Heimat zurückkehrte.
Die Geschichte seines vielbewegten und ereignisreichen, aber auch leid- und kummervollen Lebens legte er als alter Mann in seiner Chronik nieder, die uns unvollendet erhalten ist, vielleicht weil der Verfasser darüber starb. Sie ist, wie wir sehen werden, wahrscheinlich in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts verfasst. Im Gegensatz zu dem Werke seines jüngeren Vetters, das eine Geschichte der Grätzer Kirche gibt, will er die Geschichte seines eigenen Lebens und zwar der vielen Kämpfe, die er bestehen musste, schreiben; da er aber in die meisten derselben um der Kirche willen verwickelt wurde, so bietet er auch einen wichtigen Beitrag zur Geschichte der letzteren. Endlich fühlte der streitbare und mit einem starken Gerechtigkeitsgefühle begabte Mann auch das Bedürfnis, der Nachwelt die Zustände der Gesetzlosigkeit und Willkür zu schildern, die seit mehr als einem Menschenalter den Wohlstand seiner Familie untergraben hatten; darum schickt er seinem eigenen Leben noch die Leidensgeschichte seines Vaters und seines Oheim voraus, deren Schauplatz das südlich von Grätz gelegene und nur 12 Kilometer entfernte Städtchen Rakwitz ist. So beginnt die Chronik etwa mit 1735 und reicht bis 1782, wo sie plötzlich abbricht.
Dieser Inhalt, namentlich die vielfachen Beziehungen, in welche der Grätzer Kaufmann zu den Machthabern seiner Zeit und seines Landes vom verschuldeten, polnischen Edelmann bis zum reichen und mächtigen Fürsten Czartoryski und zum Könige selber trat, erheben das Werk weit über die Bedeutung einer gewöhnlichen Familienchronik. Aber ihren vollen Wert gewinnt es erst durch Heranziehung der jüngeren Chronik, die ihrerseits gleichfalls erst durch die ältere völlig brauchbar wird. Karl Ehrenfried hat vor dem jüngeren Neffen den Vorzug, dass er die Ereignisse noch früherer Jahrzehnte, als dieser, berichtet und auch das Leben in Rakwitz, dem Nachbarstädtchen von Grätz, schildert, vor allen aber, dass er großenteils eigene Erlebnisse oder doch Vorgänge beschreibt, die er als gereister Mann beobachtete, während Johann Samuel nur die Berichte älterer Zeitgenossen oder höchstens Erinnerungen aus seiner Knaben- und ersten Jünglingszeit mitteilt. Seine Chronik ist darum glaubwürdiger, als die jüngere, und wir werden uns da, wo die Berichte voneinander abweichen, immer für die ältere entscheiden müssen. Dagegen bietet die jüngere wieder eine Fülle willkommener Einzelheiten, welche in der älteren fehlen, aber doch das Zeitbild, das wir schon aus dieser gewannen, ergänzen und seinen Gestalten persönliches Leben verleihen, sodass beide Chroniken durch einander zu einem Gesamtbilde vervollständigt werden. Aus der vergleichenden und abwägenden Benutzung beider gewinnen wir ein Gemälde des bürgerlichen und kirchlichen Lebens in den letzten Jahrzehnten der polnischen Republik, das über den engen Kreis ortsgeschichtlicher Bedeutung hinausreicht und eine allgemeine Beachtung in der Provinz Posen beanspruchen darf.
In diesem Geschichts- und Zeitbilde, das uns die beiden Chronisten hinterlassen haben, lernen wir stolze Woiwoden und Starosten kennen, die unumschränkt auf ihrem Grund und Boden herrschen und hier ihren steifen Nacken nicht einmal vor dem Könige beugen, die aber in steter Geldnot leben und dann unbedenklich den Kredit des deutschen Bürgers beanspruchen oder sich über seinen Wohlstand gar ein unbedingtes Verfügungsrecht zusprechen. Wir werden in die Rechtsprechung eingeführt und treten in den Gerichtssaal. Gewalt und Ränke reichen sich hier die Hand, um das Recht zu beugen, und unerhörte Richtersprüche lassen unser Blut zornig aufwallen; sie werfen den verzweifelten Bürger der hier vergebens Recht gesucht hat, auf das Krankenlager und pressen seinem gemartertem Herzen einen Wunsch aus, den wir heute als den Ausdruck hochverräterischer Gesinnung ansehen möchten. Auf dem Marktplatze zu Grätz lässt ein wüster polnischer General einen Hauländer, weil er dem Fürsten Czartoryski die Beschwerden seiner Dorfgemeinde vorgetragen hatte, blutig peitschen und eine anständige Frau in das Polizeigefängnis sperren, dessen finstere Wände sonst nur das verworfenste Gesindel umschlossen. Ein anderes Mal duldet es dieser Wüstling, dass seine Geliebte, eine zweite Herodias, das Mordgewehr auf den friedlichen, evangelischen Pfarrer richtet, weil sie und ihr Buhle ihn hassen. In der stillen, deutschen Gemeinde, deren Hirte dieser Pfarrer ist, und die die Stürme von mehr als 150 Jahren in Grätz überdauert hat, sät ein gewissenloser Nachbarpfarrer Zwietracht und Misstrauen, und heimliche, hässliche Pläne werden zwischen ihm und dem General besprochen; um rothes Gold will jener die Gemeinde kaufen, und diesem leuchten bei dem Gedanken an die blinkenden Dukaten begehrlich die Augen. Im Hintergrunde dieses Gemäldes aber steigen die Rauchwolken der brennenden Dörfer und Städte auf, die die Banden der Konföderierten angezündet haben, und auf der Posener Straße zu Grätz drückt ein Mordbube seine Waffe auf ein wehrloses Mädchen, ein anderer auf einen armen Handwerker ab, der dem evangelischen Gottesdienste im Flegelschen Hause beiwohnte, und auf dem Wege nach Kopnitz entgeht mit Mühe und Not eine flüchtige Familie den Mordgesellen.
Von diesen dunklen Schatten des Gemäldes heben sich aber auch freundlichere Lichtgestalten ab, auf denen das Auge lieber verweilt. Ein mächtiger polnischer Fürst, der Besitzer von Grätz, gewährt der deutschen, evangelischen Gemeinde bereitwillig allerlei Privilegien zur Gründung einer Kirchengemeinde und zur Pfarrerwahl; er zeigt sich den abgeordneten Bürgern, die vor ihm erscheinen, als freundlicher, gerechter Herr, der ihnen das Grätzer Schloss zu den Gottesdiensten einräumt und nicht die Schuld trägt, wenn sein Bevollmächtigter den Willen des fernen Herrn nicht achtet. Ein Grätzer Mönch verwendet sich für einen evangelischen Fleischer in Rakwitz, der die Jungfrau Maria gelästert haben und deswegen zum Tode verurteilt werden sollte; der polnische, katholische Probst zu Grätz gewährt den Evangelischen Schutz und Zuflucht vor den Konföderierten und hebt eine drückende Beschränkung auf, denen ihre Leichenzüge unterlagen. In der deutschen Gemeinde aber vereinigen sich ernste, fromme Christen auch in gefahrvoller Zeit zum Lesegottesdienst im Flegelschen Hause oder scheuen nicht den weiten Weg nach Rakwitz, um dort an Predigt und Abendmahl teilzunehmen; immer sind sie, wie ihre Vorfahren, zu hohen und den höchsten Opfern für ihren Glauben und ihren Gottesdienst bereit.
Abgesehen von dem wertvollen Beitrag zur Zeit- und Sittengeschichte, welchen die ältere Chronik liefert, verdient diese aber auch um ihres Verfasser willen der Vergessenheit entrissen zu werden. Karl Ehrenfried Flegel hatte, als er seine Chronik schrieb, ein Leben hinter sich, das ausgefüllt war mit vergeblichen Kämpfen gegen Willkür und Gewalt, in denen er unterlegen war, weil er keine unparteiischen Richter hatte finden können. Darum ruft er die Nachwelt zur Richterin an, damit sie über seine Sache entscheide. Aber zu den Vergewaltigungen und Verfolgungen, die er durch Radonski zu erleiden hatte, kamen noch mancherlei Verdrießlichkeiten, denen er in der evangelischen Gemeinde selber ausgesetzt war. Sein Gegner wurde nämlich Pastor Roehl, der Erbauer der Grätzer Kirche, der ihn in seiner Kirchenchronik, die wir bald besprechen werden, einer ungerechten Beurteilung unterzieht, welcher sich leider auch Fischer teilweise angeschlossen hat, weil er die ältere Chronik nicht kannte und die Berichte Roehls über die Flegelsche Zeit überschätzte.
2. Beschreibung der benutzten Quellen
Da beide Chroniken, die ältere und jüngere, bisher so gut wie gar nicht unterschieden wurden, so ist es nicht überflüssig, eine eingehende Beschreibung derselben zu geben, um künftigen Verwechselungen vorzubeugen. Außer diesen beiden Schriftstücken wurden aber für die unten folgende Darstellung noch andere benutzt, von denen einige bisher wenig oder gar nicht bekannt waren, die Fischer wenigstens nicht erwähnt und die zum Teil von den Flegelschen Chroniken abweichen. Somit empfiehlt es sich, auch diese aufzuzählen und zu beschreiben, damit ihr Vorhandensein wenigstens einmal festgestellt wird. Eine Erörterung über diese Nebenquellen erst an den Stellen, wo sie von den Berichten der Chroniken abweichen, würde die zusammenhängende Darstellung sehr stören.
1. Die ältere Chronik besteht aus fünf Bogen alten Büttenpapiers (35:22 cm), von denen aber nur die ersten sechs Blätter oder 12 Seiten beschrieben sind. Jeder Bogen enthält zwei Wasserzeichen und zwar auf dem ersten Blatt einen (schlesischen?) Adler mit dem gekrönten Halbmond auf der Brust, auf dem zweiten die heilige Jungfrau mit einer Krone auf dem Haupte und dem Jesusknaben auf dem Arme. Das ganze Bild ist von eine eiförmigen Kranze umgeben. Die Chronik beginnt S. 1 mit dem Satze: „Pohlnisch Graetz war mein Geburths Orth, in welchem meine Eltern nicht wenig Religions Verfolgungen erlitten, bis 1736 zur damahligen Confoederationszeit die Stadt nicht von ohngefähr eingeäschert wurde.“ Sie bricht S. 12 bei Schilderung der Ereignisse von 1782 am Ende der Seite mitten im Satze mit den Worten ab: „Ich ließ mir also einen Extract…“ Aus mehreren Stellen ergibt sich, dass früher noch Beilagen vorhanden gewesen oder ihre Beigabe doch vom Verfasser beabsichtigt war (z. B. S. 7 „wie aus Beilage zu ersehen.“) Dieser wird zwar ausdrücklich genannt, aber aus der jüngeren Chronik ersehen wir, dass es Karl Flegel, mit vollem Namen Karl Ehrenfried Flegel aus Grätz war.
Das Jahr der Abfassung lässt sich nicht mit Sicherheit feststellen. Der letzte Zeitpunkt, welcher in der Chronik erwähnt wird, ist der 12. Juni 1782 aber manche Umstände deuten auf eine weit spätere Zeit. Bei der Schilderung der Leiden des Jahres 1778 bemerkt der Verfasser, dass ihm damals kein anderer Trost blieb als die Hoffnung, „Gott werde im Lande eine Aenderung schicken.“ Hieraus dürfen wir schließen, dass er seine Chronik nicht vor 1793, als Posen preußisch wurde, geschrieben hat. Denn nur von einer Landesveränderung hoffte er 1778, dass er durch sie das ihm geraubte Gut, nämlich sein Besitztum in Grätz, wiedererlangen werde. Er hätte aber später in seiner Lebensbeschreibung d. i. der Chronik jene tröstende Hoffnung in schweren Tagen nicht erwähnt, wenn sie nicht erfüllt gewesen wäre, als er seine Schrift verfasste; denn doch nur am erreichten Ziele konnte er auf die überwundene Zeit der Not mit Genugtuung zurückblicken und jener Hoffnung gedenken, die ihn einst aufrecht erhalten hatte. So kann die Chronik nicht vor 1793 entstanden sein. Aber vielleicht müssen wir einen noch späteren Termin annehmen. Das Haus kam tatsächlich erst 1795 wieder in den Besitz der Familie Flegel. Da nun das volle Ziel erst mit der Wiedererwerbung dieses Grundstückes erreicht war, so wird die Schrift wohl auch nicht vor 1795 entstanden sein, als Samuel Flegel das ehemalige Eigentum der Familie wieder erwarb. Für diese Annahme spricht insbesondere noch, dass Radonski, Flegels Feind, der ihn um sein Hab und Gut gebracht hatte, im März 1795 starb und durch den Tod des Gegners und den Rückkauf des Hauses die Zeit, welche Flegel beschreiben wollte, einen natürlichen Abschluss, das Ende seiner Leiden, gewann.
2. Die jüngere Flegelsche Chronik. Sie ist in zwei Exemplaren vorhanden und trägt die Überschrift: „Geschichte der hiesigen Grätzer evangelischen Gemeinde und Entstehung der Kirche seit dem Jahre 1760“. Die Unterschrift am Ende dieser Geschichte lautet: Grätz den 20. Januar 1839. J. S. Flegel. Darauf folgen noch einige Seiten mit „Bemerkungen zur Kirchengeschichte“, d. h. zur Geschichte der Grätzer Kirche.
Beide Exemplare sind auf Folio geschrieben und lassen auf jeder Seite links einen freien Rand von 6 bis 7 cm. Das eine hat ein etwas kleines Format (34:21cm) und scheint wenigstens im zweiten Teile die Ausarbeitung zu sein, da hier viele Stellen durchgestrichen und verbessert sind, während das andere Exemplar die Reinschrift sein dürfte. Dieses kleinere Exemplar besteht aus zwei Lagen von je drei Bogen und enthält auf 23 Bogenseiten den Text der „Kirchengeschichte“ und am Rande mancherlei Nachträge. Die Schrift, die anfangs sorgfältig ist, wird immer flüchtiger und ist von S. 20 bis 23 vielfach unsauber. Als Anhang folgen noch auf einem besonderen Bogen (36,5:22cm) „Bemerkungen zur Kirchengeschichte“, die drei Bogenseiten umfassen.
Das andere Exemplar ist durchweg auf gleich große Bogen (37:22cm) von hellerem Papier geschrieben. Der Text umfasst hier 20 Bogenseiten und trägt am Ende (S.20) die gleiche Unterschrift, wie das erste Exemplar. Dazu kommen noch 3 ¼ Seiten Text mit der Überschrift: Nachträgliche Bemerkungen zur Kirchengeschichte, an die sich wieder dieselbe Unterschrift, wie im ersten schließt. Die Schrift ist überall sauber, weshalb das Exemplar als die Reinschrift gelten darf.
Der Verfasser dieser jüngeren Chronik, Johann Samuel Flegel, starb, wie das Kirchenbuch Grätz bekundet, am 6. April 1848 im Alter von 83 Jahren, 5 Monaten und 3 Tagen, war also 1764 am 3. November geboren und hat demnach auch einen Teil der Ereignisse, welche der ältere Chronist beschreibt, miterlebt. Als die evangelische Gemeinde am 6. Juli 1777 aus dem Schlosse vertrieben wurde, war er 12 ½ Jahre, als das Feuer auf dem Flegelschen Grundstück am Abend des zweiten Osterfeiertages 1778 ausbrach, noch nicht 13 ½ Jahre alt; als die ganze Familie mit Karl Flegel Grätz verlassen musste und nach Borowo zog, zählte er 18 Jahre.
Seine Chronik beginnt mit den Worten: „Nachdem auch in Pohlen die evangelischen Glaubensgenossen seit den Jahren 1730 und späterhin verfolgt wurden, war es den evangelischen Einwohnern hier in Grätz nicht erlaubt, öffentlich Gottesdienst zu halten, noch weniger ihre Toten öffentlich zu begraben“ u.s.w.
Sie schildert darauf die Beschränkungen, welche den Evangelischen bei ihren Begräbnissen auferlegt waren, und die Vergünstigung, welche ihnen zum ersten Male beim Tode von Samuels Vater gewährt wurde. Es folgt die Schilderung der Konföderationszeit (1768-72), die Gründung der evangelischen Gemeinde in Grätz und die Anfeindungen derselben durch den General Radonski, vor dem der Pastor Calmann und die Familie Flegel aus Grätz weichen mussten. Die weitere Geschichte der Gemeinde, der Bau der Kirche auf dem Neuen Markte unter dem Pastor Roehl, ihre späteren Schicksale unter den folgenden Pastoren sind nur in flüchtigen, dürftigen Umrissen behandelt und bis zur Wahl des Pastors Krause 1832 fortgeführt.
Am Schlusse (S.20) beruft sich der Chronist auf das Zeugnis mehrerer noch lebender Mitglieder der Gemeinde, welche jene Zeiten, die er schildert, erlebt haben. Tatsächlich lebt auch noch lange die Erinnerung an dieselben in der Gemeinde fort, und noch heute begegnet man ihren Spuren in den Erzählungen des älteren, evangelischen Geschlechts in Grätz; so hat den Brüdern Karl und Ernst Bähnisch ihre 1852 verstorbene Großmutter noch vielfach von der Konföderationszeit erzählt (Herr Kaufmann Karl Bähnisch in Berlin, Besitzer der bekannten Grätzer Export-Bier-Brauerei, dessen eigene, früher in Grätz ansässige Familie zu der Familie Flegel in freundschaftlicher und wahrscheinlich auch verwandtschaftlichen Beziehungen stand, hatte die Güte, mir über letztere dankenswerte Mitteilungen zu machen), die der Großvater der Brüder, Samuel Bähnisch, und namentlich dessen Vater mit der Familie Flege durchgemacht haben. Aus solcher Erinnerung älterer Zeitgenossen schöpfte Flegel. Aber die Erinnerung an die Jahre, in denen die einzelnen Ereignisse stattfanden, war bei dem Chronisten doch unsicher geworden; er fühlte das selber, denn die Jahreszahlen sind vielfach von ihm verändert, wobei man die ursprüngliche Zahl noch erkennen kann. Vor allem aber erweisen sich seine Irrtümer in der Zeitbestimmung aus dem Vergleich mit den alten Rechnungsbüchern der früheren evangelischen Gemeinde zu Grätz und den übrigen Quellen.
Im Verhältnis zur älteren Chronik fällt es auf, dass die jüngere niemals auf dieselbe Bezug nimmt und in einzelnen Punkten, namentlich in der Geschichte des Prozesses wegen des Flegelschen Grundstückes, mit ihr sogar in Widerspruch steht. Daher darf man vermuten, dass Johann Samuel das Werk seines Vetters gar nicht gekannt hat, eine Annahme, die aber auch ihre Bedenken hat, weil beide Chronisten ja nach dem Wiedererwerb des Grätzer Hauses in diesem wohnten, sodass der jüngere doch nicht ohne Kenntnis der Lebensbeschreibung, die der ältere verfasste, bleiben konnte. Wahrscheinlich ist die ältere Chronik der Familie Flegel durch einen Zufall, vielleicht durch Verborgen, abhanden gekommen, sodass sie dem jüngeren Vetter, als er die seinige schrieb, nicht zur Hand war.
3. Roehls Chronik. Auch der Erbauer der evangelischen Kirche zu Grätz, Pastor Karl Gottfried Roehl, der von 1786 bis zu seinem 1816 erfolgten Tode hier wirkte, hat eine Chronik verfasst, die mit dem 17. Dezember 1775 beginnt und bis zum 17. Januar 1816 reicht. Sie umfasst auf mehr als 50 Folioseiten die Geschichte der Kirche seit 1775, enthält aber auch sonstige, wichtigere Ereignisse in Grätz oder in der Provinz, bringt daher auch Notizen über die Kriegszeit von 1806 ff., 1813 u.a.
Dieser Chronik ist die Übersetzung des Konsenses zum Bau der Kirche, des Prediger- und Schulhauses vom 8. November 1786, sowie die Abschrift des kirchlichen Konsenses vom 27. Januar 1776 vorausgeschickt. Jener ist vom General von Radonski in Grätz, dieser vom Fürsten Adam von Czartoryski in Warschau ausgestellt und unterschrieben. Auch diese Chronik befindet sich im Kirchenarchiv zu Grätz.
So verdienstvoll und zuverlässig dieselbe sonst ist, so ist die Darstellung der Zeit von Roehls Amtsantritt doch von einer starken Abneigung gegen die Flegelsche Partei, besonders den Pastor Calmann beeinflusst, sodass sie nicht als unparteiisch gelten kann. Roehl und Flegel bildeten Gegensätze, die auch in den Chroniken ihren Ausdruck finden. Die ältere schweigt zwar von Roehl völlig, weil sie nur bis 1782 reicht, Roehl aber erst 1786 nach Grätz kam; um so mehr bringt die jüngere ihre Gegnerschaft gegen ihn zum Ausdruck, sodass wir in ihr und der Roehlschen Chronik Berichte entgegengesetzter Parteien haben.
Roehls Standpunkt begreift man aus seinem Charakter. Er verstand, Menschen und Umstände seinen Zwecken dienstbar zu machen und sah dabei über persönliche Gegensätze weg. So gewann er auch den alten Gegner der Evangelischen und Feind der Familie Flegel, den General Radonski, für den Kirchbau, und es bezeichnet seine Lebensauffassung und zugleich den Gegensatz seines Wesens zu Karl Flegel, dass er die Feindseligkeiten zwischen Radonski und der Flegelschen Partei mit dem Satze richtet: „Der Baum, der uns Schatten gibt, vor dem muss man sich beugen“. Er war eine glücklichere Natur als Flegel, wurde von ihm aber an geistiger Bedeutung überragt. Bei der Gegenpartei stand er in geringem Ansehen. Die jüngere Chronik nennt ihn (S.15) einen Mann von mittelmäßigen Kenntnissen, den seine Gemeinde Neustadt gern los sein wollte. Es scheint, als ob dies Urteil nicht ganz unbegründet war; wenigstens war seine Bildung gering, wie seine eigene Chronik beweist. Danach war er nicht einmal fähig, richtige deutsche Sätze zu bilden, und stand darin sogar hinter seinem Gegner, dem älteren Flegel zurück. Von seinen Kenntnissen im Lateinischen zeugen Schreibungen, wie vixirten Gehalt, ablausum = applausum (S.13), propria authoritate (10); von denen in der Zeitgeschichte die Bemerkungen, dass 1793 der General von Möllendorff auf Befehl Friedrichs II. in die Provinz Posen eingerückt sei. Da er nun von sich selber ein ziemlich hohe Meinung besaß, sodass er seine eigenen Verdienste und seine Predigereigenschaften (S.15) wiederholt hervorhebt, so machte ihn Radonskis Einfluss und sein eigenes gekränktes Selbstbewusstsein unfähig, der Flegelschen Partei Gerechtigkeit wiederfahren zu lassen. Zuweilen vermögen wir die Unrichtigkeit seiner Angaben zu widerlegen. So behauptet er, dass bei der Übergabe der Rechnungen durch Calmann an seinen Nachfolger Hoenicka diese „nicht gut sowohl auf Seiten des Geistlichen als Kirchenältesten gewesen“ (S.11), während das Protokoll von 30. September 1782, das auch Hoenicka unterschrieben hat, ausdrücklich besagt: „In gleichen befand sich die Kirchenrechnung in gehöriger Ordnung nebst denen dazu bestimmten Belägen“.
Er behauptet weiterhin, dass die Kirchenvorsteher durch unnötige Reisen und Diäten die Kirchenkasse leer gemacht haben, während wir aus der jüngeren Chronik erfahren, dass die Kosten für die Reisen, welche zum Fürsten unternommen wurden, die Flegelsche Familie selber aufbrachte, und für eine so schwere Beschuldigung beruft er sich auf die „Aussage einiger Bürger“ (S.9). Auch die Zeitangaben über die vor seinem eigenen Amtsantritt fallenden Ereignisse sind, wie die ältere Flegelsche Chronik und das Rechnungsbuch beweisen, ungenau und unzuverlässig.
Somit ist Roehls Chronik für die Geschichte der Flegelschen Familie eine unlautere Quelle, soweit er nicht Selbsterlebtes erzählt.
Außer diesen drei Chroniken sind noch folgende handschriftliche Quellen benutzt.
4. Die beiden Rechnungsbücher. Im Archiv der Grätzer evangelischen Kirche sind zwei Rechnungsbücher erhalten, von denen das ältere 31 cm lang und 10 cm breit ist und einen Pergamenteinband hat, der mit einem lateinischen, schlecht lesbaren Text beschrieben ist. Es beginnt mit dem Jahre 1620 und reicht bis 1714. Das jüngere Rechnungsbuch ist weit dicker als das ältere, hat eine Länge von 32 ½ cm und eine Breite von 10 ½ cm, ist in Leder befunden und hat stärkere Deckel aus Holz. Es beginnt mit dem „unschuldigen Kindeltag“ 1707 d. i. dem 28. Dezember und reicht bis 1817. Die Berichte von 1707-1714 sind also in beiden Büchern überliefert.
Beide Rechnungsbücher enthalten in der Regel nichts Anderes, als die Rechnungsablegung für das verflossene Jahr, die um Weihnachten abgehalten wurde. Zuweilen stehen kurze Notizen über besondere Ereignisse, wie Pest, Kirchenvisitation u. a. dabei. Von 1775 bis 1787 ist eine große Lücke, da aus dieser Zeit keine Rechnungen vorhanden sind. Hinter dem Michaelisbericht von 1814 finden sich zwei Seiten mit Notizen über die Gemeinde und den Pfarrer Calmann vom 17. Dezember 1775 bis 15. September 1782, die wahrscheinlich von irgend einem der Pfarre nahestehenden Kirchenältesten eingetragen wurden und die einzigen Notizen im Rechenbuche aus der Calmannschen Zeit sind.
5. Protokoll der Lokalkommission vom 13. und 14. November 1775. Dasselbe ist abschriftlich in den Prozessakten der evangelischen Gemeinde zu Grätz von 1828 im Grätzer Kirchen-Archiv und in dem Königlichen Staats-Archiv zu Posen erhalten. Dagegen ist der Konsistorialkonsens von Lissa, der nach dem fürstlichen Konsens vom 27. Januar 1776, wie Roehl im Anfang seiner Chronik in Übereinstimmung mit der älteren Flegelschen Chronik (S.6) berichtet, der Gemeinde übergeben wurde, nicht mehr vorhanden und fehlte auch schon 1863, als Fischer seine Gedenkblätter (vgl. S.26) herausgab
6. Protokoll über das Kircheninventar, welches am 30. September 1782 bei der Übergabe desselben durch den Pastor Calmann an seinen Nachfolger, den Substituten Karl Franz Hoenicka, aufgenommen wurde. Es enthält nahezu drei Bogenseiten, befindet sich im Kirchenarchiv, ist von Hoenicka eigenhändig geschrieben und trägt außer seiner eigenen noch folgende 5 Unterschriften: Carl Jeremias Calmann, bisher gewesener Pastor der Evangl. Gemeinde in Grätz, Siegmund Gottlob Brummer, Johann Gottlieb Schön, Andreas Schönfeldt, Johann Christian Knoll. Fischer erwähnt es nicht.