„Mehr Licht“ – ein beschlossene Sache, das Gaswerk in Neutomischel wird gebaut / 1903

Laterne vor dem ehemaligen Kreishaus / Postkartenausschnitt

Laterne vor dem ehemaligen Kreishaus / Postkartenausschnitt

„Die Errichtung einer städtischen Gasanstalt ist von der Stadtvertretung beschlossen und mit der Bauausführung die Firma Carl Franke in Bremen beauftragt worden.

Als Preis der Gesammtanlage, in welcher eine Wohnung für den Gasmeister, Bureau- und Arbeitsräume, Wasch- und Baderaum für die Angestellten mit vorgesehen sind, einschließlich aller Apparate, Rohrleitungen, Kandelaber, Straßenarbeiten etc. etc. sind 84.000 Mk. veranschlagt, da aber der Platz hierbei nicht mit inbegriffen ist und auch mancherlei unvorhergesehene Ausgaben entstehen können, so ist mit einem Anlage-Kapital von 100.000 Mk. zu rechnen.

Als Bauplatz ist ein Terrain von Herrn Carl Eduard Goldmann hinter dessen Grundstück am Neuen Markte erworben worden. Mit dem Bau soll bald begonnen und derselbe so gefördert werden, daß bei Beginn des Herbstgeschäftes Straßen und Häuser sich wieder in ordnungsmäßigem Zustande befinden und spätestens Anfang Oktober das Werk in Betrieb gesetzt werden kann.

An die Bürgerschaft wird demnächst die Aufforderung ergehen, ihre Häuser und Wohnungen zum Anschluß an die Gasleitung anzumelden. Wer dieser Aufforderung bis 1. Juni nachkommt, erhält folgende Vergünstigung:

Die Ausführung des Anschlusses bis in das Haus hinein, einschließlich Mauerdurchbruchs erfolgt kostenfrei, bei späterer Anmeldung müssen die gesammten Kosten, vom Hauptrohr ab, vom Besteller getragen werden. Die Herstellung der weiter erforderlichen Gasleitungen in den Wohnräumen geht für Rechnung des Gasabnehmers, aber auch hierbei wird die Stadt, um den Bürgern die Anlage zu erleichtern, weitgehendste Liberalität walten lassen. Die Stadt ist bereit diese Innenleitungen zunächst auf städtische Kosten legen und dann von den Konsumenten im Laufe von 5 Jahren gegen eine 4prozentige Verzinsung in monatlichen Raten abzahlen zu lassen. Mehr als 40 Hausbesitzer haben auf eine Vorfrage ihre Häuser zum Anschluß bereits angemeldet.

Bedauerlicher Weise wird von einem Teile der Bevölkerung das neue Unternehmen noch mit sehr gemischten Gefühlen beurteilt; einige Schwarzseher befürchten, das Gaswerk werde sich nicht rentieren und die Bevölkerung mit einer unerschwinglichen Steuerlast bedrückt werden. Diese Befürchtung ist unnötig.

Wer sich nur die Frage vorlegt, kann ein Werk, das 100.000 Mark Anlagekapital erfordert, für eine so kleine Stadt rentabel werden, wird allerdings zu einer ablehnenden Antwort kommen; das war der Standpunkt, den der Einsender vor 3 Monaten auch eingenommen hat. Es ist aber in einer früheren Nummer dieses Blattes die Rentabilität von Herrn Paech schon zahlenmäßig nachgewiesen worden, es ist da nachgewiesen worden, daß bei einem jährlichen Verbrauch von 65.000 cbm Gas das Werk rentabel wird. Es ist da nachgewiesen worden, wenn 400 Flammen durchschnittlich täglich 2 Stunden brennen, so ergiebt das 400 x 2 x 365 = 292.000 Brennstunden für das Jahr, oder, da ein Kubikmeter Gas 8 Stunden Brenndauer hat, einen Konsum von 36.500 cbm Leuchtgas. Für Koch-, Heiz- und Kraftgas ist nach den Erfahrungen anderer kleiner Städte auf die Hälfte des Leuchtgase zu rechnen als auf 18.250 cbm, 50 Straßenlaternen brauchen 6.500 cbm, sodaß für Verlust und Selbstbrand in der Anstalt noch übrigen bleiben 3.750 cbm = zusammen 65.000 cbm.

Gaslaterne am ehemaligen Alten Markt / Postkartenausschnitt

Gaslaterne am ehemaligen Alten Markt / Postkartenausschnitt

Die Zweifler sollten diese Zahlen prüfen und sagen, was sie dran nicht für richtig halten, sie sollten sagen, daß 400 Flammen hier nicht und auch nicht durchschnittlich täglich 2 Stunden brennen werden, oder daß das Jahr nicht 365 Tage hat, sondern weniger, und daß die herausgerechneten 292.000 Brennstunden nicht erreicht werden können, oder sie sollten die anderen Positionen angreifen, dann ließe sich darüber reden und wir würden bald zu einer Verständigung kommen, aber nur sagen, eine Gastanstalt, die 100.000 Mark Anlagekapital erfordert, kann in einer so kleinen Stadt nicht rentieren, ist eine Behauptung aber keine Beweisführung. Die Stadtverordneten, die für Errichtung eines Gaswerkes gestimmt haben, sind auch Steuerzahler, sie würden, wenn die Anlage mißlingt, davon eben so hart oder noch härter betroffen werden, wie die anderen Bürger. Da kann man sich doch wohl denken, daß sie auch gerechnet und geprüft haben, bevor sie zu einem Beschluß gekommen sind. Auch darüber wird geklagt, daß mit den Innenleitungen (Installationen) den Hausbesitzern große Opfer auferlegt werden. Zunächst wird jeder Hausbesitzer wissen, daß jede Verbesserung, die er seinem Grundstück angedeihen läßt, den Wert desselben auch erhöht. Diese Wertverbesserung wird sich bald dadurch bemerkbar machen, daß die mit Gasanlage versehenen Läden und Wohnungen zu angemessenem Preise viel eher einen Mieter finden werden, als die im Dunkel stehenden.

Sodann aber sind die Preise, die von den Schwarzsehern für die Innenleitung angegeben werden, auch stark übertrieben. Der laufende Meter schmiedeeisernes Rohr kostet einschließlich Verbindungsstücke, Rohrschellen, fix und fertig verlegt 0,90-1,50 Mk., da kann sich ein jeder berechnen, wie viel die Installation ungefähr kosten kann. Bezüglich der Lampen und Kronen muß es allerdings jedem Wirt wie jedem Mieter überlassen bleiben sich solche nach seinem Geschmack und seinen Verhältnissen anzuschaffen, es giebt da sehr einfache und billige Sachen und auch elegante und teuere. Es ist auch nicht nötig, jede Lampe zu erneuern, bei Hängelampen ist vermittelst eines Spiralschlauches eine Verbindung zwischen Gasrohr und Brenner für weniges Geld leicht herzustellen.

Eine Kommission der Stadtverordneten war in Kosten, Schmiegel und Wollstein um sich zu orientieren, bevor sie einen soweit gehenden Beschluß faßte, und in diesen Städten ist sie in ihrem Vorhaben bestärkt worden. In Schmiegel und Wollstein liegen die Verhältnisse ähnlich, wie bei uns. Zwar haben beide Städte eine größere, fast doppelte Einwohnerzahl als Neutomischel, beide haben aber auch einen unverhältnißmäßig größeren Armenetat als wir, woraus wohl der Schluß zulässig ist, daß in jenen Städten viel mehr arme Leute wohnen als bei uns und hier eine verhältnißmäßig konsumfähigere Einwohnerschaft ist. Schmiegel ist eine Stadt ohne Bahnhof, soweit erinnerlich, ist dort nur ein Motor in Betrieb, und obgleich das Werk erst seit November fertig ist, ist man dort schon in der Lage den Verbrauch an Gas für das erste Jahr auf mehr als 80.000 cbm anzugeben. In Wollstein ist der Bahnhof auch noch nicht angeschlossen, das soll erst geschehen, wenn der Erweiterungsbau, der jetzt bevorsteht, vorgenommen wird. Auch dort ist nur ein kleiner Motor in Betrieb und dort schätzt man den Verbrauch für das erste Jahr schon auf mehr als 100.000 cbm, bei uns ist der Bahnhof, der allein mehr als 10.000 cbm konsumiert, zum Anschluß an die Gasleitung bereits angemeldet und außerdem 4 Motoren, da hat man wohl nicht nötig um die Rentabilität übermäßig besorgt zu sein.

Gaslicht am Gebäude Ecke ehemaliger Neuer Markt - Goldstrasse / Postkartenausschnitt

Gaslicht am Gebäude Ecke ehemaliger Neuer Markt – Goldstrasse / Postkartenausschnitt

Die Notwendigkeit der Einführung einer zeitgemäßen Beleuchtung der Straßen und Häuser ist von der Stadtvertretung einmütig anerkannt worden, nur welche Art für uns die geeignetste ist, darüber waren die Ansichten verschieden. Während von einer Seite die Anlage einer elektrischen Centrale befürwortet wurde, wurde von einer anderen der Anschaffung einer neumodischen Petroleumlampe das Wort geredet. Hierbei sei erinnert, daß auch der frühere Stadtverordnete, Herr Schornsteinfegermeister Jeenicke, sich schon im vorigen Jahre für eine bessere Beleuchtung und zwar für Errichtung eines Acethylen-Werkes ausgesprochen hat. (Kreisblatt vom 1902-07-15: In einer Stadtverordneten-Versammlung am Freitag (11.07.1902), bei welcher von den hiesigen sechs Stadtverordneten vier vertreten waren, wurde die Errichtung einer Acethylen-Gasanstalt mit 3 gegen 1 Stimme abgelehnt. Die Vorarbeiten waren bereits derart gefördert, daß die Beleuchtung in diesem Herbst (1902) eingeführt werden sollte.) Die Stadtverordneten in ihrer Mehrheit beschlossen, die Errichtung eines Steinkohlengaswerkes, weil dieses nicht nur zu Beleuchtungszwecken sondern auch zu Koch- und Heizzwecken und der schwach einsetzenden Industrie zu Kraftzwecken dienen kann.

Die Stadtvertretung also hat sich einmütig für eine neue, zeitgemäße Beleuchtung ausgesprochen, eine Stadtvertretung, die sich den Fortschritten der Zeit verschließt, wäre auch nicht wert, daß sie existiere. Wir haben aus vergangenen Zeiten Beispiel genug, wie durch die Kurzsichtigkeit der Stadtvertretungen Städte ruiniert wurden.

Als der Eisenbahnbau in den Anfängen lag, da gab es Stadtvertretungen, die sich gegen den Anschluß an das Bahnnetz sträubten; da kamen die Krämer und erhoben Einspruch, weil durch den Bahnanschluß die Einwohner zu leicht Gelegenheit fänden, ihren Bedarf in naheliegenden größeren Städten einzukaufen. Dann kamen die Fuhrwerksbesitzer und stürmten dagegen an, weil sie in der Eisenbahn eine lästige Concurrenz sahen, und dann kamen wieder andere, die keine Bahn oder wenigstens den Bahnhof weit ab von der Stadt haben wollten, damit die Ruhe des ehrbaren Bürgers durch den Pfiff der Lokomotive nicht gestört werde. Das waren die Anschauungen derjenigen, die aus dem Nest nicht herausgekommen sind, die für die Fortschritte der Zeit keinen Blick und kein Verständniß hatten und immer nur an die naheliegenden eigenen Interessen und nicht an die der Gesammtheit dachten; für die Städte, in denen solche kurzsichtigen Anschauungen die Oberhand hatten, haben sie sich für die spätere Zeitdauer bitter gerächt. Die Eisenbahnen wurden doch gebaut, die Bahnhöfe kamen in Städte, deren Bürgerschaft mehr Verständniß dafür zeigte, diese blühten auf, die anderen aber, vom Verkehr abgeschnitten blieben wirtschaftlich und kulturell zurück; mehr und mehr wurden sie entvölkert und damit ging der Grundstückswert von selbst zurück. Nicht besser würde es uns gehen, wenn wir uns, den Zeitverhältnissen verschließend, fortwürsteln würden, wie es zu Großvaters Zeiten war. In früheren Jahren hatte Neutomischel den Ruf, daß es den Nachbarstädten in kultureller Beziehung voraneile, daß ist nun aber schon lange her, die Stadt muß Anstrengungen machen ihren alten Ruf zu wahren, sie muß vorwärts gehen, sonst bleibt sie zurück.

Das ehemalige Gaswerk kurz nach seiner Fertigstellung 1903 / Postkartenausschnitt

Das ehemalige Gaswerk kurz nach seiner Fertigstellung 1903 / Postkartenausschnitt

Auch nach anderer Richtung ist es nötig, daß wir Anstrengungen machen, vorwärts zu kommen. Jeder hiesige Einwohner wünscht, daß von den gemeinnützigen Anstalten, die Staat oder Provinz errichten lassen, auch hierher etwas kommen möchten; kann man verlangen, daß die Regierung in eine Stadt, die keinen Blick für den Fortschritt der Zeit zeigt, dies es an die einfachsten Anforderungen für die Behaglichkeit ihrer Bewohner, die heut auch die kleinste Stadt zu leisten vermag, fehlen läßt, Beamte schickt? Glaubt man, daß in einer solchen Stadt Beamte sich wohl fühlen, und für viele Jahre seßhaft machen können? Der Bahnhof, das Kreishaus werden an die Gasleitung angeschlossen werden, die Behörden werden das ihrige tun unser neues Unternehmen zu fördern und unsere Anstrengung zu belohnen, möge nun auch die Bürgerschaft das ihrige tun, damit das neue Werk für die Stadt ein segensreiches werde.“

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Quellen, soweit nicht direkt im Text oder in Bildbeschreibungen angegeben: Großpolnische digitale Bibliothek Poznan (http://www.wbc.poznan.pl/dlibra) – “Amtliches Kreis-Blatt für den Kreis Neutomischel” 1902/07/15, 1903/05/12

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Ein weiterer Beitrag:

Und es wurde Licht in den Straßen Europas … in Neutomischel im Jahr 1903
http://hauland.de/und-es-wurde-licht-in-den-strassen-europas-in-neutomischel-im-jahr-1903/