Päschke, Gerhard Superintendent – Evangelische Kirche in Neutomischel vor 200 Jahren eingeweiht

Eine kurze Rückschau anlässlich des sich zum 200sten Male jährenden Tages der Einweihung der evangelischen Kirche zu Neutomischel

Der letzte evangelische Gottesdienst in Neutomischel wurde am Sonntag, dem 21 Januar 1945 gehalten

Anmerkungen der Autoren dieser Seite wurden in Klammer eingeschoben.

Veröffentlicht wurde dieser Beitrag mit der freundlichen Genehmigung der Posener Stimmen – Heimatbrief der Gemeinschaft Evangelischer Posener (Hilfskomitee E.V.) , in deren Ausgabe Nr. 10 / 1980 eine erste Publikation stattfand.



Im Jahrbuch Weichsel-Warthe 1980 finden wir den interessanten Beitrag von Helmut Stärke mit der Überschrift: „200jährige Kirche in Neutomischel„. Dort ist auch eine Innenansicht der Kirche aus dem Jahre 1935 von dem Fotografen Enderich zu sehen. Die in Kreuzform errichtete und mit doppelten hölzernen Emporen ausgestattete Kirche konnte mehr als 1000 Besucher aufnehmen. Sie wurde auf dem Grundbesitz der Herrschaft Tomischel (Tomysl) mit Erlaubnis und Hilfe des polnisch-katholischen Besitzers Feliks Scołdrski [Szołdrski] für die im Umkreis wohnenden deutsch-evangelischen Siedler erbaut. Als sie am 15. Oktober 1780 eingeweiht wurde, gab es die Ortschaft Neutomischel noch gar nicht. In der Kirchenchronik von Werner-Steffani wird berichtet, daß um die neuerbaute Kirche herum sich an Sonn- und Feiertagen durch das Zusammenströmen vieler Menschen ein lebhafter Verkehr entwickelte und so die Ortschaft Neutomischel entstand, die schon 1786 das Stadtrecht erhielt.

Inneres der Kirche, Sicht von der Orgel Foto-Enderich (1930)

Der erste Pastor war Johann Christian Bräuning, er amtierte von 1778 bis 1790. Den vorletzten Pastor, Superintendent Reisel, der 30 Jahre lang der Gemeinde gedient hat, haben die älteren Gemeindeglieder noch in dankbarer Erinnerung. Trotz seines hohen Alters wurde auch er 1939 verschleppt und starb bald danach an den Folgen des Internierungsmarsches. Nun bin ich als der letzte Pastor der evangelischen Kirchengemeinde Neutomischel gebeten worden, ein Erinnerungswort für die „Posener Stimmen“ zu schreiben. Meine Amtszeit von November 1939 bis Januar 1945 lag von Anfang bis zu Ende unter dem Schatten des 2. Weltkrieges und der nationalsozialistischen Herrschaft, Damals waren wir zunächst froh, daß wir von der polnischen Herrschaft befreit und in das Deutsche Reich heimgekehrt waren. Aber bald kam für unsere seit 20 Jahren „evangelisch-unierte Kirche in Polen“ die große Enttäuschung. Als wir nämlich nun auch die Heimkehr in unsere preußische Landeskirche dankbar begehen wollten und zu dieser Feier auch die Behörden einluden, bekamen wir den Bescheid, daß im Warthegau, wie unsere Heimat nun einige Jahre hieß, ein ganz neues Modell von Kirche eingeführt werden sollte. Bald wurde uns eine Verfassung für diese uns zugedachte zukünftige Kirche vorgelegt. Aber aus Gewissensgründen konnten wir diese Verfassung nicht annehmen. Sie hätte es uns unmöglich gemacht, unserem kirchlichen Auftrag nachzukommen.

Bis zum Kriegsende beharrten wir auf dieser Weigerung, die für unser kirchliches Leben natürlich viele Erschwerungen mit sich brachte. Nach dem Urteil des Staates existierten wir in diesem verfassungslosen Zustand eigentlich gar nicht mehr als Kirche. Darum fielen für uns im Warthegau die im Altreich noch gültigen kirchlichen Vorrechte fort. So wurde uns z. B. verboten, Kirchenbeiträge zu erheben, was wir unter der polnischen Herrschaft noch hatten ungehindert tun dürfen. Im Gottesdienst durften Kollekten nicht mehr eingesammelt werden. Im Abhalten von Kindergottesdienst und im Erteilen christlicher Unterweisung wurden wir durch eigens zu diesem Zweck erlassene Bestimmungen stark behindert. Zu den bisherigen Gemeindegliedern, die auch weiterhin mit der Kirche verbunden blieben, kamen viele evangelische Deutsche aus dem nahen und fernen Orten, die auch meist treu zur Kirche hielten. So sammelte sich trotz aller Erschwerungen immer wieder eine Gemeinde im Gotteshaus um Wort und Sakrament und war willig, die zur Durchführung der kirchlichen Aufgaben notwendigen Mittel auch unaufgefordert aufzubringen. Im Jahre 1940 [nach andere Quelle – November 1941] wurde der Turm unserer Kirche für baufällig erklärt. Eine namhafte Beihilfe des Berliner Oberkirchenrats zur Wiederherstellung durften wir nicht annehmen. So wurde der Turm, der auf dem Foto von 1935 noch zu sehen ist, abgerissen. Im Pfarrgarten errichteten wir ein schlichtes Holzgerüst, an dem wir eine der Glocken aufhingen.

Den letzten Gottesdienst in Neutomischel hielt ich am Sonntag, dem 21. Januar 1945. Am Abend vorher hatte sich schon der leidvolle Flüchtlingstreck in Bewegung gesetzt, bei 20° Kälte und auf vereisten Straßen. Eine kleine Schar noch Zurückgebliebener ließ sich stärken durch das Wort Römer 8, 35: ,,Wer will uns scheiden von der Liebe Gottes? Trübsal oder Angst oder Verfolgung oder Hunger oder Blöße oder Fährlichkeit oder Schwert?“ Beim Abschied gab ich den Teilnehmern noch den Rat, sich doch zur Flucht zu entschließen, so schwer es ihnen auch fiele.

Inzwischen haben schon zahlreiche ehemalige Gemeindeglieder die verlorene Heimat besucht und uns auch über den jetzigen Zustand unserer nun 200 Jahre alten Kirche mit Wort und Bild berichtet. Unsere Kirche wird jetzt von der polnisch-katholischen Gemeinde gottesdienstlich benutzt und trägt den Namen ,.Herz-Jesu-Kirche“ (Serza Pana Jezusa). Sie befindet sich baulich in gutem Zustande, wurde 1962 im Inneren und 1974 im Äußeren renoviert. Die Gedenktafeln für die in den vorletzten Kriegen gefallenen Gemeindeglieder wurden bald entfernt. Das bisherige Altarbild wurde durch ein Marienbild eines polnischen Kunstmalers ersetzt, wie Frithjof Krüger mir mitteilte. Auch ihm war das Betreten der Kirche nicht möglich, weil sie — entgegen dem sonst in katholischen Kirchen üblichen Brauch — an Werktagen meist verschlossen ist. Aber zu den Gottesdiensten finden sich, wie Helmut Stärke erwähnt, so viele Besucher ein, daß sie in der doch so geräumigen Kirche nicht alle Platz finden. Arno Kraft übersandte mir eine Fotokopie aus dem Katalog der Kunstdenkmäler (Zabytków sztuki) in Polen von 1969. Da wird bis in alle Einzelheiten sehr ausführlich über die „seit 1945 römisch-katholische Kirche“ berichtet.

Der Verlust unserer Heimatkirche mag wohl schmerzlich für uns sein. Wir wollen ihr aber nicht bloß nachtrauern, sondern uns dankbar darauf besinnen, daß uns auch in unserer jetzigen Kirchengemeinde der Besuch des Gotteshauses möglich ist und wir auch in den so veränderten Verhältnissen in das Psalmwort 26,8 einstimmen können: “Herr, ich habe lieb die Stätte deines Hauses und den Ort, da deine Ehre wohnt.“

Mit herzlichem Gruß an alle, die sich meiner noch erinnern,
Euer ehemaliger Superintendent [Gerhard] Päschke