Schilter, Otto – Das evangelisch-lutherische Kirchspiel Nowy Tomysl (Neutomischel)

Volksfreund - Kalender / Einband

  • Dieser Artikel wurde veröffentlich im VOLKSFREUND – KALENDER für Stadt und Land aus dem Jahr 1934 / Achter Jahrgang
  • Druck und Verlag: Verlagsges. „Libertas“ m.b.H., Lodz, Piotrkowska 86
  • zur Verfügung gestellt wurde der Beitrag von Hr. Dieter Maennel, Kassel – aus dem von ihm geführten MAENNEL ARCHIV.

Otto Schilter (*2-7-1903 Bałuty, + 26-12-1988 Burgdorf) war der vorletzte Pastor der altlutherischen Kirche in der Lange Str (Długa Str) in Neutomischel. Im Februar 1930 bestand Otto Schilter das erste Examen der Theologen in Leipzig (er war vorher Volksschullehrer gewesen), und wurde im Anschluss zum Hilfsprediger der ev.-luth. Parochie Nowy Tomyśl berufen und am 11. Mai 1930 von Superindendent Büttner in  Neutomischel ordiniert. Am 8. Oktober 1931 wird  ihm das Zeugnis zum zweiten theologischen Examen erteilt (ausgestellt von der Prüfungskommision des Oberkirchenkollegiums der Ev.-luth. Kirche in Preußen, Breslau). Von Januar 1932 bis 1936 ist er als Pastor der Parochie Neutomischel mit der Betreuung folgender Gemeinden betreut: Neutomischel, Brody mit Gottesdienst bei Müllermeister Albert Schulz, Bentschen/Zbąszyń  (Kreis Meseritz) mit Gottesdienst bei Böttgermeister Eichholz am Markt,  Neuborui  / Nowa Boruja mit eigener Kirche, Tuchorze/Stara Tuchorza (Kreis Bomst) mit eigener Kirche, Birnbaum/Miedzychod (Kreis Birnbaum) mit eigener Kirche, Milostowo (Kr. Birnbaum) mit Gottesdienst im Gemeindehaus der Kirche  bei R. Matzke, Zirke/Sierakow (Kr. Birnbaum) mit Gottesdienst bei der Witwe  Hauffe und Georgsburg/Zamorze (Kreis Samter) mit Gottesdienst im Haus v. Joh.  Klemke, sowie Tannheim (Kr. Bomst).  In diese Zeit fällt auch das am 17. September 1933 gefeierte 75.  Kirchweihjubiläum, bei dem die geistliche Prominenz mit Superintendent Büttner (Rogasen), Gotthold Werner (Schwarzwald), Dr. Karl Hoffmann (Posen),  Theodor Brauner (Thorn) und Paulig (Bromberg) anreisten. Ein weiterer Höhepunkt war das Fest zum 100jährigen Bestehen der Gemeinde Neutomischel am 30. Juni 1935.  Frank Schilter, der Enkel des Otto Schilter berichtete auch, dass die älteren Geschwister seines Vaters Reinhard: Dorothea Elisabeth 1933 , Ruthild Anna Maria 1936  und Christoph Karl Adolf 1937 im Pfarrhaus in Neutomischel geboren wurden. Zum 12-12-1937 wechselte Pastor Otto Schilter nach Bromberg.

Diese Einzelheiten und das Foto des Otto Schilter wurden seinem Enkel Herrn Frank Schilter   http://familienarchiv-schilter.weebly.com zur Verfügung gestellt.

Anmerkungen der Autoren dieser Seite wurden in Kursivschrift in eckige Klammern eingeschoben.


Otto Schilter (fot. Frank Schilter)

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a. Entstehung und Entwicklung des Evangelisch-lutherischen Kirchspiels Neutomischel vor Einführung der Union.

Es ist lebendige Tatsache, daß die Reformation in Polen ursprünglich auf viel Verständnis gestoßen ist. Es bildeten sich im 16. Jahrhundert zerstreut im ganzen Lande reformierte und noch mehr lutherische Gemeinden. Nach einer kurzen Blütezeit kam indes bald die Unterdrückung der evangelischen Bewegung durch die Gegenreformation. Aber ganz konnte, rein äußerlich betrachtet, trotz aller Unterdrückung, evangelisches Leben in Polen nicht ersterben, da von seiten der polnischen Grundherren der deutsche Mensch in seinem aufbauenden Wert erkannt und zur Einwanderung veranlasst worden ist. So entstanden im Posenschen Gebiet insbesondere in der Zeit von 1700 bis 1800 allerorts stetig neue evangelische Gemeinden, teils reformierten (Hussiten),

in der Hauptsache aber doch rein lutherischen Gepräges. Im Jahre 1692 gab es bereits in Zinskowo, wenige Kilometer westlich von Neutomischel, auf dem Grund und Boden des Starosten von Gnesen, von Unruh, eine evangelische Gemeinde, die ein eigenes Schul- und Bethaus besaß. Bald darauf entstehen in unmittelbarer Nähe des heutigen Stadtgebiets Neutomischel eine ganze Reihe sogenannter „Hauländergemeinden“, wie Paprotsch, Glinau, Dorf Sontop, die Hauländergemeinde Scherlanke, Kozielaske und Neurose. Die Einwohner dieser Gemeinden waren anfangs teils junge deutsche Männer aus dem Brandenburgischen, die aus Furcht vor den Rekrutenaushebungen von dort flohen und von dem polnischen Grundherrn hier wohlwollend aufgenommen wurden; vor allem aber waren es deutsche Einwanderer aus Schlesien. Ihnen wurde vom polnischen Grundherrn, dem die Einwanderer willkommen waren, in der Gegend des heutigen Neutomischel ein Stück Land von etwa einer Quadratmeile als Wohnsitz angewiesen. Es gehörte schon Mut dazu, in diese damalige Wildnis von Urwald und Sumpf sich niederzulassen. Das Land urbar und bewohnbar zu machen, war der Einwanderer Aufgabe. Kaum hatten diese deutschen Ansiedler des Urwaldes um Neutomischel unter schwersten Lebensbedingungen ihre niedrigen Bohlenhäuser aufgerichtet und sich einigermaßen seßhaft gemacht, da fingen sie auch an, für Schulen und Bethäuser Sorge zu tragen. Schulen „zur Information der Kinder und den Gottesdienst zu halten“ wurden aufgerichtet in Zinskowo (erbaut 1692), Sontop und Kozielaske. Man bemühte sich, in die Schulen geistliche Lehrer, „Rektoren“, anzustellen, die die Fähigkeit haben sollten, Gottesdienste abzuhalten. Am Sonntag wurde zunächst in den Schulen etwa eine Predigt vorgelesen, wie man annimmt, aus Brastberger und später aus der hier viel verbreiteten „Kleinertschen Hirtenstimme“, Choräle gesungen und die Kinder vornehmlich im Katechismus Dr. Martin Luthers unterrichtet. In Zinskowo hatte man die seltene Gelegenheit, Taufen und Trauungen vollziehen zu lassen. In der Regel mußte man jedoch zu kirchlichen Amtshandlungen und zu einem Predigtgottesdienst, vom Pastor gehalten, bis in die Kirche von Chlastawe (etwa eine halbe Meile hinter Bentschen) oder Wollstein (ca. 30 Klm. westlich (eigentl. südlich) von Neutomischel entfernt) sich begeben. Dieser weite Weg war in den unwirtlichen Gegenden jener Zeit sehr beschwerlich. Als die Dissidenten (d.h. die Nichtkatholiken) freie Religionsübung erlangten, strebten diese evangelisch-lutherischen

Evgl.-Luth. Kirche - Blick auf den Altar

Glaubensgenossen nach dem Besitze einer eigenen Pfarre und Kirche. Ihrem Streben kam ein besonderer Umstand entgegen. Im Jahre 1755 [nach dem Tod seiner Grossmutter, die als Mitgift diese Umgebung ung. 1698 eingetragen wurde] übernahm der Starostensohn von Łęczyc, Erbherr der Herrschaft Tomysl und Erbherr auf Czempin, Felix auf Szoldry-Szoldrski die Herrschaft Tomyśl. Dieser polnische Grundherr bekundete ein reges Interesse an den Hauländergemeinden, und suchte auch ihre kirchlichen Belange zu befriedigen. Er gestattete ihnen, sich zunächst einen eigenen Prediger zu wählen, der am 2.Febr. 1778 als erster hiesiger Pfarrer durch den Senior Machatius aus Schweinert in sein Amt eingeführt wurde. Es war dies der Diakonus Johann Christian Bräuning aus Tirschtiegel, welcher den Gottesdienst noch in der Schule zu Zinskowo abhielt. Dem Wunsche der Gemeinden entsprach dies noch immer nicht. Sie wandten sich abermals an den Erbherrn von Szoldrski mit der Bitte, sich ein gemeinschaftliches Gotteshaus bauen zu dürfen. Nach Einholung der behördlichen Genehmigung gab der Erbherr die Erlaubnis und verlieh den Gemeinden am 13. August 1778 das Kirchenprivilegium; noch mehr, er schenkte auf Glinauer Boden eine halbe Hufe Land zum Bauplatz der Kirche und zur Besoldung der Kirchenbeamten und verpflichtete sich, das Baumaterial zu liefern. Der Bau der Kirche wurde am 9. April 1779 in Angriff genommen. Am 15. Oktober 1780. am 21. Sonntage nach Trinitatis, wurde die massive, in Kreuzform erbaute, stattliche Kirche geweiht. Die Gottesdienste fanden von nun ab in Neutomischel statt. Um auch ein Pfarrhaus aufrichten zu können, wurden die Schul- und Bethäuser in Zinskowo und Kozielaske abgebrochen und das Material für den Bau des Pfarrhauses verwandt. Um diese neuerbaute Kirche und die Pfarrgebäude entwickelte sich an Sonn- und Festtagen durch das Zusammenströmen der Menschen aus allen benachbarten Hauländereien ein reger Verkehr. Dies nahm der Erbherr von Tomyśl zur Veranlassung, auf dem Kirchplatze eine Stadt zu gründen. Am 8. April 1786 wird ihm durch den Bestätigungsbrief des Königs Stanislaus August von Polen, eine Stadt zu gründen, genehmigt und freigegeben, „eine Stadt mit Gräben, Dämmen, Gewässern, Verteidigungswerten nach seinem Belieben zu umgeben und zu versehen, Bürger, Kaufleute und jeder Art Handwerker einzuführen, heranzuziehen, unterzubringen, Waren jeder Art dorthin zu verfahren und zu verkaufen, welches also errichtete Städtchen für immerwährende Zeiten Neu-Tomyśl heißen soll.“ [siehe ganzes Privileg] In der gleichen königlichen Urkunde wird der Stadt das „teutonische Recht, welches das Magdeburgische heißt, nebst allen andern Freiheiten und Vorzügen, deren die Kronstädte sich bedienen, allergnädigst verliehen.“ Die Stadt wird dem Erbherrn selbst unterstellt, und er scheute keine Mühe, um Bürger, Kaufleute und Handwerker anzusiedeln, und die Stadt zu fördern. Er bot unter günstigen Bedingungen Baustellen an, ja er ließ selbst die ersten Häuser erbauen, um sie an herbeiziehende Deutsche zu verkaufen (z. B. das Schäfersche Grundstück am Alten Markte). Am 18. Februar 1788 verlieh der Erbherr von Tomyśl der Stadt Neu Tomyśl ein Privilegium, durch das er es sich angelegen sein läßt, den meisthin deutschen Einwanderern soviel wie möglich Schutz zu gewähren und sie zu vollberechtigten Bürgern seiner Stadt zu machen. In diesem Privileg heißt es u.a.: „Die freie Übung der Evangelischen Religion erlaube ihnen, wie in andern deutschen Städten, ohne Hindernis des Katholischen Gottesdienstes„, sodann! „ . . . desgleichen erteile ich dem Städtchen einen Gottesacker, denen deutschen Leuten, zum Begräbnis . . .” Die Stadt entwickelte sich unter diesen Umständen nicht ungünstig und förderte zugleich den Wohlstand unter den Hauländern.

Weihe der Gedenktafel fur die Gefallenen im 1. Weltkrieg

Altar

Die Hauländer konnten bei dem spärlichen Ertrag ihres inzwischen urbar gemachten Landes knapp leben. Jetzt boten sich ihnen neue Erwerbsmöglichkeiten: Bauholz nach Neu Tomyśl zu verkaufen und ihre aus Holz verfertigten Produkte abzusetzen (Schaufeln, Mulden usw.). Noch ein anderer günstiger Umstand trug zur Förderung des Wohlstandes bei. In der weiteren Umgebung von Neutomischel (in den Orten Deutsch-Böhmisch; Polnisch-Böhmisch) ließen sich um ihres Glaubens willen verfolgte Hussiten nieder, die aus ihrem Lande die Saazer Hopfenrebe mitbrachten und hier anbauten. Der Hopfen gedieh auf dem feuchten Boden der Neutomischler Gegend außergewöhnlich gut und verhalf der hiesigen Gegend bald zu einem beträchtlichen Wohlstand.

Für die Kirche und ihren evangelisch-lutherischen Glauben hatten Stadt und Land viel Sinn. Als zweiter Pastor diente der Gemeinde Christian Friedrich Zachert, der im Jahre 1790 berufen wurde und am 8. Mai 1815 starb. Der dritte Seelsorger der Gemeinde Neu Tomyśl war Gottlob Wilhelm Ferdinand Willmann, vorher Diakonus in Schwerin a. W. Er starb nach 20-jähriger Amtstätigkeit am 28. Oktober 1835. Während dessen Amtstätigkeit kam ein Bruch in die sonst so friedlich sich entwickelnde evangelisch-lutherische Gemeinde. Der Bruch wurde von außen in die Gemeinde hineingetragen, veranlaßt durch die vom preußischen Königshaus damals konsequent betriebene Union.

b. Die Neugestaltung des Evangelisch-lutherischen Kirchspiels Neutomischel.

Das preußische Regentenhaus war seit 1539 lutherisch. Im Jahre 1613 trat jedoch der Kurfürst Johann Sigismund zur reformierten Kirche über. Das Volk in seinem Lande blieb der lutherischen Kirche treu. Von da an ist eine Kluft ausgebrochen zwischen den Hohenzollern und dem größten Teil ihres Volkes: der Fürst reformiert, das Volk lutherisch. Es ist nicht verwunderlich, dass seitdem bei den preußischen Regenten der Wunsch wach blieb, eine Vereinigung, auf lateinisch Union, zwischen der lutherischen und der reformierten Kirche herbeizuführen. Man wartete auf einen günstigen Augenblick der Verwirklichung. Nachdem der Pietismus den Wert der lauteren Evangeliumsverkündigung an die zweite Stelle gerückt und nachdem man in der Zeit der andauernden Herrschaft des Nationalismus das Bekenntnis zu würdigen verlernt hatte, schien der Augenblick gekommen zu sein. Vom Jahre 1817 wurde die Arbeit an der Union planmäßig in die Wege geleitet. 1822 gab der König selbst eine unierte Agende heraus, die für Reformierte und Lutherische Geltung haben sollte. Nachdem durch diese Agende der Weg geebnet war, wurde die Union, die Vereinigung der Reformierten und Lutheraner zu einer Evangelischen Kirche, am 23. Juni 1830, am Jubiläumstag der Augsburgischen Konfession, proklamiert. Es gab sowohl gegen die Einführung der Agende als auch gegen die Union stillen und lauten Widerspruch, der stärker wurde, je mehr das religiöse und kirchliche Leben erwachte, je mehr man sich bewusst wurde, was Kirche ist, und was es um das einheitliche Bekenntnis der Kirche ist. Das landesherrliche Kirchenregiment wollte indes keinen Widerspruch kennen; es betrachtete die Union als vollendete Tatsache und die unierte Agende wurde als Gesetz angesehen. Gegen die Widerstrebenden wurde mit Polizeigemalt vorgegangen.

Eingang zur Kirche: Posaunenchor, P Dr. Karl Hoffman (Posen), Pastor Martin Nagel (Neutomischel), Pastor Otto Schilter (Bromberg) und die Kirchenvorsteher, Blick in der Richtung des Neuen Marktes

In Breslau war es der D. der Theologie Professor Johann Gottfried Scheibel, der aus Liebe zur lutherischen Kirche und aus Treue zum lutherischen Bekenntnis die Union nicht annehmen konnte. Er stand in diesem seinen Glauben nicht allein. Der in Juristenkreisen damals hochangesehene Universitätsprofessor Dr. Huschke, sowie der aus Norwegen stammende Naturforscher Steffens, der gleichfalls an der Universität lehrte, schlossen sich ihm an. Man erkannte, dass die vom König, eingeführte Union gegen Schrift und Bekenntnis sei, ja, man sah, dass sie zuletzt ein Attentat auf die Selbständigkeit der lutherischen Kirche bedeutete, wie sie bisher in Preußen seit den Tagen der Reformation bestanden hatte. Um diese Führer sammelten sich treulich immer größere Gemeinden. Sie wurden auf das härteste verfolgt. Professor Scheibel wurde seiner Ämter als Pastor und Professor enthoben. Gegen die Gesinnungsgenossen Scheibels, besonders unter den Pastoren mit ihren Gemeinden, ging man mit polizeilicher Überwachung und harten Gerichtsstrafen vor. Indes, man blieb trotz aller Unterdrückung treu, und Breslau wurde der Mittelpunkt einer religiösen Bewegung, die über ganz Preußen sich ausdehnte und die gegen alle Vermischung des Glaubens die bekenntnisreine lutherische Kirche forderte.

Evgl. Lutherische Kirche Nowy Tomysl (Sammlung von Wojtek Szkudlarski)

Diese Bewegung ist auch an Neutomischel nicht spurlos vorübergegangen. Pastor Willmann hat, wie handschriftliche Mitteilungen jener Zeit dartun, den Kirchenvorstehern von der Vereinigung der beiden Konfessionen zu einer Evangelischen Kirche gesagt. Der Unterschied war diesen und der Gemeinde, die bis dahin bekenntnismäßig einheitlich war, unbekannt. Da bei Nichtannahme der unierten Agende, an der man nichts auszusetzen wusste, und der Union selbst, die Ungnade der Regierung zu befürchten war, nahm man die Union an.

Es waren indes doch einzelne fromme Männer, die in der neuen Kirche keine innere Befriedigung fanden, und kirchlich bleiben wollten, was sie bis dahin gewesen waren. Namhaft werden in den Kirchenakten genannt: der Müllermeister Johann Georg Reisch aus Alttomischel, der Schuhmacher Johann Christian Schupelius aus Sontop, der Brettschneider Menzel aus Boruy. Zu ihnen gehörte auch der Mühlenbesitzer Alexander Maennel in Neutomischel nebst vielen anderen. Die Zahl derer, die in kirchlicher Hinsicht aus Glaubensüberzeugung bekenntnismäßig rein lutherisch bleiben wollten, wuchs nicht nur in Neutomischel, sondern auch in den angrenzenden Kirchspielen Hammer, Boruy, Wollstein, Tirschtiegel, als einzelne Pastoren die Union ablehnten. In Pinne war es der Predigtamtskandidat Daniel Gottfried Fritzsche, der dort „das Wort Gottes mit großer Kraft“ predigte. Trotz aller günstigen Bedingungen, die ihm in diesem neuen Kirchspiel, das von dem edlen und frommen Erbherrn von Pinne C. von Rappard gegründet wurde, winkten, trat er aus der Union aus und ging zur Evangelisch-lutherischen Kirche in Preußen über, die sich inzwischen in Breslau konstituiert hatte (1835). Nun fing Fritzsche an, alle treu gebliebenen Lutheraner im weiten Umkreis von Neutomischel, ja in der ganzen Provinz Posen und darüber hinaus, zu sammeln und sie kirchlich zu betreuen. Er tat das unter unsäglichen Mühsalen. In dem Gutsbesitzer Zahn aus Turowo, der der Union gleichfalls fernblieb, fand er einen treuen Unterstützer seiner Sache und suchte bei ihm des Öfteren Unterschlupf. Denn Fritzsche wurde wegen der Ablehnung der Union von der Behörde wie ein Verbrecher behandelt. Ein Steckbrief, der hinter ihm erlassen wurde, ist heute noch erhalten. Er lautete „Größe 5 n. 5 n. Haare: dunkelblond, nicht kraus. Stirn: frei. Augenbrauen: blond. Augen: blaugrau. Nase: länglich. Mund: gewöhnlich, Statur: mager, schlank.“ Es ist natürlich, dass auch die von ihm gesammelten Lutheraner in ihrem lauteren Bestreben um eine reine Kirche nicht verstanden, teils absichtlich missverstanden wurden, dass sie verspottet, unterdrückt und von der Behörde unter verschiedensten Vorwänden verfolgt wurden. Indes, es ist hier nicht der Ort, um darauf im Einzelnen einzugehen. Es soll hier nur die Bildung eines neuen lutherischen Kirchspiels Neutomischel außerhalb der Union sachlich dargestellt werden.

Um das Jahr 1838 siedelte nach Neutomischel der Apotheker Friedrich August Otto Kliche über. Er war ein Freund der bekenntnisreinen lutherischen Kirche und brachte zusammen mit dem Mühlenbesitzer Alexander Maennel einen Zusammenhang unter die lutherischen Glieder, die in der unierten Kirche in Neutomischel ihre religiösen Belange nicht erfüllt sahen. Nachdem Pastor Fritzsche 1841 mit Lutheranern, die des langen Druckes um ihres Glaubens und Gottesdienstes willen, aus ihrer Heimat nach Australien auswanderte, betreute die lutherischen Glieder in und im weiten Kreis um Neutomischel bis zum Jahre 1843 der Pastor Ludwig Wagner. Die Gottesdienste wurden zuerst in den Wohnräumen des Mühlenbesitzers Johann Alexander Maennel, weil von den Behörden verboten, hinter verschlossenen Türen abgehalten. Bald reichten die Räume nicht zu. Man wollte doch auch lutherische Kirche sein und nicht irgendein Konventikel.

Pastoren der luth. Gemeinde Nowy Tomysl - Karte: D. Maenne

So musste man auch einen entsprechenden Kirchraum schaffen. Die Glieder sammelten untereinander 500 Reichstaler und schufen dann auch durch Umbau, im Hause des Königlichen Kreischirurgen Carl Heinrich Stellmacher in Neutomischel ein entsprechendes Kirchlokal. Pastor Wagner führte die nötigen Kirchenbücher ein. Man fängt an, kirchliche Gemeinden herauszugestalten. Pastor Philipp Jakob Oster, aus Strasburg im Elsaß stammend, führte als Nachfolger von Pastor Wagner das angefangene Werk von Posen aus bis zum Jahre 1846 segensreich fort. Während seiner Amtstätigkeit erließ die preußische Regierung die sogenannte „General-Konzession für die von der Gemeinschaft der evangelischen Landeskirche sich getrennt haltenden Lutheraner. Vom 23. Juli 1845“ — die den Lutheranern freie Religionsübung gewährte. Es war ihnen gestattet „zu besonderen Kirchengemeinden zusammen zu treten und einen Verein dieser Gemeinden unter einem gemeinsamen, dem Kirchenregimente der evangelischen Landeskirche nicht untergebenen Vorstande zu bilden.“ Letzterer war nun das „Ober-Kirchen-Kollegium“ in Breslau. Es war ihnen auch gestattet, Kirchengebäude aufzurichten, was bis dahin strengstens untersagt war. Von diesem Rechte machten auch die sich sammelnden Gemeinden um Neutomischel dankbaren Herzens Gebrauch. Bereits am 25. März 1846 wird in Tirschtiegel durch Pastor Oster in Gegenwart der dortigen Gemeinde der Grundstein einer Kirche gelegt, die am 22. Oktober [1846] gleichen Jahres eingeweiht wurde. Unter dem Nachfolger von Pastor Oster, Pastor Carl Wolff, der in Prittisch ansässig gewesen sein soll, wurde im Jahre 1847 die Kirche der Gemeinde Neuborui eingeweiht. Es folgte als dritter Kirchbau der in der Gemeinde Alt-Tuchorze. Die Kirche wurde hier am 17. Dezember 1851 eingeweiht. Über das Jahr 1852 berichtet die handschriftliche Chronik: „Bis hierher war die Zahl der Lutheraner unter Gottes Segen so gewachsen, dass mit dem Tode des Pastor Wolff an eine Abzweigung der Lutheraner in und um Neutomischel gedacht werden konnte. Das geschah 1852. Die Gemeinden Neutomischel, Neuborui, Alt-Tuchorze, Tirschtiegel mit Dürrlettel und Grätz bildeten mit Genehmigung des Ober-Kirchen-Collegii eine Parochie, in welcher der Hilfsprediger Carl Kornmann zum Pastor berufen wurde.“ Er stammte aus Schlesien und galt als ein Mann von ausgezeichneter Gelehrsamkeit und dichterischer Begabung und war zudem von außerordentlicher Treue in der Amtsführung. Wähnend seiner Amtstätigkeit brannte das Haus des Königlichen Kreischirurgen Carl Heinrich Stellmacher im Jahre 1858 ab und damit auch das Kirchlokal der Evangelisch-lutherischen Gemeinde zu Neutomischel. Mit großer Liebe verfolgte Pastor Kornmann den Bau einer massiven Kirche in seiner glaubensfrohen, leben-digen Gemeinde. Der Eigentümer Gottlieb Tepper schenkte die Baustelle und die Gemeindeglieder steuerten und halfen nach Kräften, so dass am 14. November desselben Jahres 1858 die Kirche schuldenfrei eingeweiht werden konnte. Seiner umsichtigen Führung ist es zu verdanken, dass die Gemeinden auch nach außen hin immer mehr an Ansehen gewannen. Sie erlangten zum größten Teil Korporationsrechte. Die Kirchen wurden den Gemeinden gerichtlich verschrieben. Pastor Kornmann wurde 1869 im Frühjahr als Pastor nach Militsch berufen und vom Ober-Kirchen-Kollegium in Breslau zum Superintendenten der Diözese Militsch ernannt. Er hatte in Neutomischel nach innen und außen Aufbauarbeit geleistet. Sein Nachfolger wird der Hilfsprediger Herrmann Matschoß. Er wurde in Schwarnitz in Schlesien am 20. Mai 1844 geboren. War ursprünglich auf der Missionsanstalt in Neuendettelsau, studierte dann an der Universität in Breslau weiter, ist 1868 Hilfsprediger in Elberfeld, 1869 in Baden und wird von dort in das Pfarramt nach Neutomischel berufen.

Er wurde eine Segensgestalt für die Gemeinde. Ein Glaubensmensch innerster Art, weckte er überall neues Glaubensleben und hingebende Liebe zur Kirche. Dies wirkte sich auch nach außen vorteilhaft für die Gemeinden aus. Am 12. September 1871 erwirbt die Gemeinde unter Anregung ihres Pastors ein Wohnhaus nebst Garten, der Kirche gegenüber gelegen, zum Pfarrhause für den Kaufpreis von 2350 Reichstalern. Neutomischel wurde jetzt durch Kirche und Pfarrhaus im besonderen Maße der Mittelpunkt der sich neu gestaltenden Evangelisch-lutherischen Parochie. Die Seelenzahl hat wesentlich zugenommen. Die kirchliche Statistik der Parochie vom Jahre 1875 weist auf die Geburt von 19 Knaben und 28 Mädchen, gestorben sind 13 männliche und 14 weibliche Personen; konfirmiert wurden 13 Knaben und 10 Mädchen; getraut 3 Paares; aufgenommen 2 Personen; exkommuniziert 1 Gemeindeglied;  das   heilige  Abendmahl  empfingen 1338 Personen, davon haben 174 die Privatbeichte benützt. Die Seelenzahl betrug 872. Diese Zahl wuchs zwar nicht wesentlich, aber doch von Jahr zu Jahr. Während der Amtsführung des Pastors Matschoß feierten 4 Gemeinden ihr 25-jähriges Kirchenjubiläum: Tirschtiegel 1871, Neuborui 1872, Alt-Tuchorze 1876 und Neutomischel 1883. Die Kirchengebäude der genannten Gemeinden wurden für die Festfeier zum Teil mit erheblichem Kostenaufwand innen erneuert. Selbst die kleine Gemeinde Grätz schuf sich im Jahre 1883 für 1600 Mark eine Kapelle, in der die Gottesdienste, die vordem in einem Wohnhause abgehalten wurden, nunmehr stattfanden. Im Jahre 1885 schied der verdiente Seelsorger Herrmann Matschoß von Neutomischel, als Pastor nach Bunzlau berufen. Sein Nachfolger wird der Hilfsprediger Gottfried Albert Mai Johannes Seidel (geb. am 25. 1. 1860); dessen Einführung fand in Neutomischel am 6. Dezember 1885 statt. Als guter Prediger und aufrichtiger Seelsorger erwarb er sich viel Liebe und Achtung in der ganzen Parochie. In unermüdlicher Treue diente er der Gemeinde 33 Jahre hindurch, in einer Zeit, in der die Parochie innerlich gefestigt dastand und an äußerem Wohlstand, der auch in beträchtlichen Schenkungen der Kirche gegenüber, zutage trat, stetig zunahm. Im Jahre 1918 war Pastor Seidel krankheitshalber gezwungen, in den Ruhestand zu treten. Er starb im Posener Diakonissenhaus am 28, Februar 1922 und wurde auf dem Friedhof zu Neutomischel am 4, März 1922 begraben.

In harter dumpfer Kriegszeit übernahm Pastor Ludwig Greve (geb, 24. 12 [18]77) aus Alt-Rudnitz kommend, das Neutomischler Evangelisch-lutherische Pfarramt. Viel Schweres hat die Zeit seiner Amtsführung mit sich gebracht: Zusammenbruch, Umsturz, Internierung, Inflation, Option, Abwanderung u. s. f. eine trostlose Zeit. —

Evgl. Lutherische Kirche Nowy Tomysl (Sammlung von Wojtek Szkudlarski)

Das Evangelisch-lutherische Kirchspiel Neutomischel hat von seinen annähernd 1000 Seelen die Hälfte behalten. In dieser trostlosen Zeit bedurfte es viel Trostes von oben. Pastor Greve, eine tiefreligiöse Gestalt, war der Mensch, der ihn reichlich hat spenden dürfen. Durch diese drückendsten Jahre hat er in unerschütterlichem Gottvertrauen die evangelisch-lutherischen Gemeinden der Parochie Neutomischel segensreich hindurchgeführt. Tiefe Seelsorge an Einzelnen und an den Gemeinden, gesegnete Predigttätigkeit, Sammlung und Vertiefung nicht zuletzt auch durch Freizeiten, die in manchem Jahr für Männer und Frauen, Jünglinge und Jungfrauen abgehalten wurden, das alles musste, weil es aus tiefem Glauben heraus getan war, seine Segensspuren hinterlassen. Beliebt und geachtet, weit über die Grenzen des eigenen Kirchspiels hinaus, verließ Pastor Greve als deutscher Reichsangehöriger, im Februar 1929 Neutomischel, um in Bochum-Hammer eine 3000 Seelen große Gemeinde zu übernehmen, die aus der Union zur Evangelisch-lutherischen Kirche in Preußen übergetreten ist. Bis zum Jahre 1920 gehörte das Evangelisch-lutherische Kirchspiel Neutomischel zur Evangelisch-lutherischen Kirche in Preußen. Man gehörte dieser Kirche an in Treue und Dank.

Sie hütete in Preußen in reinster Ausprägung unter unsäglichen Opfern — denn der preußische Staat hatte ihr, als sie aus Gehorsam gegen Gottes Wort der unierten Kirche sich nicht anschließen konnte, auch nicht eine Kirche, nicht ein Pfarrhaus, nicht einen Gottesacker gelassen, sie musste alles, von sich aus neu schaffen — das Erbe der deutschen Reformation. Luther hatte im Evangelium und im lutherischen Bekenntnis den höchsten Schatz und zugleich den besten Schutz der Kirche gesehen. Das ließ man im Dienst an Kirche und Volk nicht aus dem Auge. Dass von allen Altären und allen Kanzeln der Ruf Gottes aus dem Evangelium in voller Klarheit und Reinheit weitergegeben wird, das betrachtete und betrachtet die kleine evangelisch-lutherische Kirche als ihre heiligste und vornehmste Aufgabe. Denn „die Kirche darf nicht in unbiblischer Duldsamkeit ein Sprechsaal für die verschiedensten Menschenmeinungen sein oder ein Hort für die Gleichberechtigung der Richtungen, sondern sie muss nach Gottes Willen und um des Menschen willen die wahrhaftige Verkünderin der unverkürzten und unveränderten Botschaft Gottes an die Welt sein.“ (Gottfried Nagel.)

Nach dem Umsturz wurden die Provinzen Posen und das heutige Pommerellen vom Deutschen Reiche abgetrennt und kamen zu Polen. In dieser Umgestaltung der äußeren Verhältnisse waren die im polnischen Staate verbliebenen Gemeinden der Evangelisch-lutherischen Kirche in Preußen gezwungen worden, das Band mit der Mutterkirche zu lösen. Im Jahre 1920 schlossen sie sich zur „Evangelisch-lutherischen Kirche in Westpolen“ zusammen. An der Spitze derselben steht zunächst ein „Hauptvorstand“ mit dem Sitz in Thorn. Die Superintendentur der Diözese Posen und Pommerellen hat zurzeit Herr Superintendent Büttner in Rogasen inne. Diesen Behörden untersteht also auch das Kirchspiel Neutomischel mit seinen etwas über 500 Seelen. Die Parochie Neutomischel besteht aus den Gemeinden Nowy-Tomyśl (Neutomischel), Boruja-Nowa (Neuborui), Tuchorza Stara (Tannheim) und Miedzychód (Birnbaum). Alle 4 Gemeinden haben eigene Kirchen. Außerdem rechnen zum Kirchspiel noch die Predigtorte: Brody, Milostowo, Zamorze und Sieraków (Zirke). In den Gemeinden herrscht durch Gottes Gnade ein lebendiges Glaubensleben. Auch die kirchlichen Vereine: Frauenverein, Jünglings- und Jungfrauenverein, 2 Posaunenchöre, 2 Kirchenchöre wirken zum inneren Segen der Gemeinden. — Nachdem Pastor Ludwig Greve aus Neutomischel im Februar 1929 verzog, war das Kirchspiel über ein Jahr vakant und nur von Posen aus administriert. Mit hingebender Treue hat man gerade in der Vakanzzeit durch Lesegottesdienste das Evangelium hier verkündigt und sich im Glauben gemeinsam erbaut und gestärkt. Im April 1930 übernahm der Hilfsprediger Otto Schilter die evangelisch-lutherische Parochie Neutomischel. Im Januar 1932 wurde er zum Pastor derselben gewählt. —

70iger Jahre Dluga Str (Lange Str) fot Arno Kraft (Negativ D. Maennel)

Im Jahre 1933 beging die Gemeinde Neutomischel das 75jährige Kirchweihjubiläum. Gott der Herr schenke dieser Gemeinde Seinen Segen weiterhin dergestalt, dass sich in ihr allezeit die Menschen finden, die aus Gottesgehorsam, im Dienst an Kirche und Volk, stets wie Paulus und Luther bekennen:

„Ich schäme mich des Evangeliums von Christo nicht; denn es ist eine Kraft Gottes, die da selig macht alle, die daran glauben.“ (Rm. 1, 16.)

Otto Schilter, Pastor.

ehemaliger Standort der Evgl.-Luth. Kirche (rechts) und des Pastorenhauses (links) 28-1-2008 fot.pm

Heutige Ansicht des Standortes der ehemaligen Evgl.-Lutherische Kirche 28-1-2008 fot.pm