Stärke Helmut – 200 Jahre Neutomischel 1983

200 Jahre Neutomischel“ – der Artikel wurde im Original von Helmut Stärke für das Jahrbuch der Landsmannschaft Weichsel-Warthe Ausgabe 1983 verfasst und publiziert.
Eine Veröffentlichung auf dieser Seite erfolgt mit freundlicher Genehmigung der LWW – Landesmannschaft Weichsel-Warthe


In diesem Jahr kann die jüngste Stadt im Posener Land ihr 200jähriges Bestehen feiern. Aus einem Marktflecken, der sich um die für die evangelischen Siedler der umliegenden Holländergemeinden errichteten Kirche gebildet hatte, ist in der Zwischenzeit eine pulsierende Kleinstadt mit über 10 000 Einwohnern geworden.

Um das 1779/80 errichtete evangelische Gotteshaus hatten sich Händler, Gastwirte mit Ausspannungen und auch Handwerker niedergelassen, so daß der Grundherr von Tomyśl Felix Szoldrski auf den Gedanken kam, hier eine Stadt anzulegen. Seine Eingabe an den König in Warschau beantwortete Stanislaus August am 8. April 1786 zustimmend. Er gestattete, eine Stadt nach Magdeburger Recht zu errichten unter „Aufhebung der polnischen und litauischen Gesetze, welche dieses teutonische Recht antasten und verwirren könnten“. Der Grundherr verlieh der neuen Stadt, die den Namen Neu TomysI bekam, sein eigenes Wappen, einen Kahn, und ließ weitere Häuser errichten und bestimmte auch den Stadtplan. Neben dem Alten Markt auf dem die Kirche stand, wurde hinter einer Verbindungsstraße, die man wegen der florierenden Geschäfte bald Goldstraße nannte, ein Neuer Markt angelegt, auf dem das Rathaus stehen sollte. Von diesen Märkten führten Ausfallstraßen zu den Nachbarstädten und -dörfern. Die neuen Bürger waren ausnahmslos Deutsche und stammten aus der näheren und weiteren Umgebung.

Neutomischel um 1960, im Hintergrund Häuser aus Gründezeit

Neutomischel um 1960, im Hintergrund Häuser aus Gründezeit

Durch Privilegium vom 18. Februar 1788 erließ der Graf Szoldrski für seine Mediatstadt eine ausführliche Stadtordnung. Der 100. Geburtstag wurde aus diesem Grunde auch 1888 gefeiert, da das Stadtleben der „deutschen Leute“, wie es darin heißt, erst hier bis in die Einzelheiten geregelt wurde.

Mit der 2. Teilung Polens 1793 begann auch für diese junge Stadt und ihre Bürger das Leben unter preußischer Obrigkeit. Am Ausgang des 18. Jahrhunderts hatte die Stadt 60 Häuser, 6 Windmühlen und 430 Einwohner. Es waren In erster Linie Handwerker und Händler, die ihre Geschäfte mit den Bauern der umliegenden Hauländergemeinden tätigten. Es gab aber auch Ackerbürger mit Viehhaltung, denn bis zur Pflasterung des Neuen Marktes befand sich auf diesem noch ein Teich für deren Enten und Gänse. Die Häuser waren alle aus Holz errichtet unter Verwendung von Lehm aus den im Westen der Stadt gelegenen Lehmkeuten. Auf den Märkten herrschte zu den Wochenmärkten reges Treiben. Besonders der Neue Markt war dann angefüllt von Bauernwagen, die landwirtschaftliche Erzeugnisse und allerlei Vieh zum Verkauf in die Stadt brachten.

Einen großen Aufschwung nahm die Stadt durch den Hopfenbau in der Umgebung und den Hopfenhandel. Zu erwähnen ist hier der 1837 aus Posen zugezogene Kaufmann Joseph Jacob Flatow, der für bessere Anbaumethoden und Hopfensorten sorgte. Er brachte dadurch den Hopfenhandel auch mit dem Ausland in Schwung. Für seine Verdienste erhielt er 1858 die Ehrenbürgerwürde. Durch den Hopfen wurde die Stadt im In- und Ausland bekannt, denn von weither kamen Händler in das Städtchen zum Einkauf des begehrten Neutomischler Hopfens. Nachdem die Märkisch-Posener Eisenbahn ab 1870 für bessere Verkehrsverbindung gesorgt hatte, blühte der Handel weiter auf, und das Städtchen war nun der größte Hopfenhandelsplatz in Preußen.

Ein politisches Ereignis trug zum Aufschwung der jungen Stadt bei. Der polnische Aufstand 1848, der die Besetzung der Kreisstadt Buk durch polnische Insurgenten brachte, welche auch Grätz, die größte Stadt des Kreises, bedrohten. Die Neutomischler Bürgerwehr, unterstützt durch die Schützengilden benachbarter Hauländergemeinden, zog nach Grätz und bewahrte so diese Stadt vor ähnlichen Ereignissen wie in Buk. Als Folge davon wurde die Kreiskasse und das Landratsamt von Buk in das sicherere Neutomischel verlegt. Kreisstadt wurde Neutomischel aber erst 1887 nach Teilung des Buker Kreises in zwei: Grätz und Neutomischel. Schon viel früher war die fast nur von Deutschen bewohnte Stadt Sitz des Bezirkskommandos geworden. 1880 waren von 1300 Einwohnern nur 150 katholisch und davon bekannten sich auch einige zum Deutschtum. 1900 hatte Neutomischel 1805 Einwohner, davon 311 Katholiken.

In der kleinen Stadt gab es um die Jahrhundertwende viele Vereine: 2 Turn-, 3 Gesangsvereine und den großen Landwehrverein sowie die Schützengilde und auch einen Verschönerungsverein, daneben bestanden viele berufliche, konfessionelle und bildnerische Vereinigungen. Hauptsächlich in den Wintermonaten fanden fast in jeder Woche Veranstaltungen in den kleinen und größeren Saalbauten der Stadt statt. Kurz vor Ausbruch des 1. Weltkrieges fand hier Ende Juli 1914 das 18. Bundesschießen des Schützenbundes Neumark-Posen statt. Gleichzeitig feierte die Schützengilde Neutomischel ihr 125jähriges Jubiläum. Dies war wohl der Höhepunkt im Vereinsleben des Städtchens. Die Mobilmachung brachte bald danach viele andere Besucher hierher. Die Reservisten wurden vom hiesigen Bezirkskommando eingekleidet und ihren Truppenteilen zugeteilt. So mancher ältere Mann erinnerte sich bei der Nennung des Namens Neutomischel noch nach dem letzten Krieg an diese Tage. Industrieansiedlungen wie die Gasglühkörperfabrik, 2 Dampfmühlen, 1 Ölmühle, 1 Drahtgeflechtfabrik, 2 Maschinenbauanstalten, 2 Brauereien und andere gewerbliche Betriebe hatten inzwischen für mehr wirtschaftliches Wachstum gesorgt, so stieg die Einwohnerzahl auf 2 1/2Tausend. Die alten einstöckigen Holzhäuser waren mit derzeit, meist nach Bränden, durch neue, massive und mehrstöckige Häuser ersetzt worden. Die Stadt machte einen sauberen und wohlhabenden Eindruck, und Besucher schätzten darum die Einwohnerzahl meist höher, als sie wirklich war.

Am 3. Januar 1919 gelang es polnischen Aufständischen, die Stadt aus Richtung Neustadt im Handstreich ohne Kampf zu besetzen. Über die Umstände, die dazu führten und die Rolle einiger deutscher Offiziere in der Stadt ist später viel diskutiert worden. Die deutschen Beamten und später auch viele Geschäftsleute verließen die Stadt, und Polen zogen zu. Neutomischel lag jetzt im Zentrum des nach Westen bis Bentschen vergrößerten Kreises. Die Menschen mußten sich mit den neuen Gegebenheiten abfinden. Es entwickelte sich ein friedliches und teilweise wohlwollendes Nebeneinander zwischen deutschen und polnischen Einwohnern. Die nähere Umgebung blieb deutsch besiedelt, und deutsche Genossenschaften mit Sitz in der Stadt übernahmen wichtige wirtschaftliche Funktionen. Die Deutschen der Gegend erfüllten ihre Bürgerpflichten dem polnischen Staat gegenüber, hielten aber an ihrem Volkstum fest. Trotz vieler Reibungspunkte kann man aber sagen, daß sie respektvoll von der polnischen Verwaltung behandelt wurden. Sie beteiligten sich auch an der Zeichnung der Verteidigungsanleihe, und so kam im Kreise eine beachtliche Summe zusammen. Der Landrat konnte dafür im Sommer 1938 der Armee viele Waffen unter Anwesenheit von General Sosnkowski übergeben.

Ab Frühjahr 1939 verschärften sich die Spannungen immer mehr. Viele wehrpflichtige junge Deutsche verließen ihre Heimat über die ca. 20 km entfernte Grenze. Nach der polnischen Mobilmachung Ende August begann am 1. September der Krieg. Schon am frühen Morgen zogen polnische Flüchtlinge durch unsere Stadt. Die meisten hiesigen Beamtenfamilien hatten sich schon vor Tagen nach Osten abgesetzt. Polnisches Militär rückte in die Stadt ein. Nach vorbereiteten Listen verhafteten polnische Polizisten viele prominente deutsche Bürger im Laufe des Vormittags. Sie wurden auf Pferdewagen nach Osten transportiert. Die meisten deutschen Einwohner flohen aus der Stadt und brachten sich bei Verwandten und Bekannten in der Umgebung in Sicherheit. Am 4. September rückte das polnische Militär ab, und am 7. September nachmittags marschierten deutsche Truppen in die Stadt ein, herzlich begrüßt von den an den Vortagen zurückgekehrten Deutschen. Noch am selben Tag wurde diese Freude getrübt durch die Auffindung der Leiche eines Bauern aus Kirchplatz am Neuen Markt und die Entdeckung von 2 Gräbern im Stadtpark. In den nächsten Tagen gelangten Nachrichten von der Ermordung vieler Bürger beim Verschleppungsmarsch aus verschiedenen Orten in unsere Stadt.

In den nächsten Monaten etablierte sich die deutsche Verwaltung. Viele Polen, vor allem Beamtenfamilien, mußten ihre Wohnungen räumen und wurden ins Generalgouvernement transportiert, obwohl sich für ein Verbleiben mancher mehrere deutsche Bürger einsetzten. Die Kreisverwaltung wurde im nächsten Jahr nach Grätz verlegt, was bei der alteingesessenen Bevölkerung Verdrossenheit hervorrief. Dazu kam auch noch das Verbot des Hopfenbaus und Umstellung auf Gemüseanbau.

Als Ende 1944 die Front immer näher rückte, wurden bei vielen Gesprächen unter guten Freunden Fluchtmöglichkeiten erwogen. Das 1. Aufgebot des Volkssturms wurde am 18. Januar aufgerufen und verließ am Abend desselben Tages mit der Bahn Neutomischel. Seine Bewaffnung war aber sehr schlecht. Es herrschte überall ein großes Durcheinander. Am 20. kam der Räumungsbefehl. Noch in der Nacht verließen die meisten Deutschen ihre Heimat mit Wagen und auch zu Fuß. Es war kein geordneter Treck, jeder versuchte mit Bekannten voranzukommen.

Am 21. rückte das Generalkommando aus Posen in die Stadt und wurde notdürftig im Rathaus untergebracht. Die Stadtverwaltung zog zwei Tage darauf ab. Am 27. Januar rückten die Russen ein. Am Tag zuvor hatte ein SS-Mann beim Abziehen seiner Einheit eine Handgranate In ein Zimmer der Stadtschule am Alten Markt geworfen; vielen dort gefangen gehaltenen Polen brachte diese unsinnige Tat den Tod. Die Erschießung einiger Deutscher muß man wohl in diesem Zusammenhang sehen. Aber auch Polen litten unter dem undiszipliniertem Verhalten der Sieger.

In der Folgezeit fanden in der Stadt und Umgebung polnische Umsiedler aus dem Osten Polens eine neue Heimat. Die verbliebenen Deutschen wurden zur Zwangsarbeit abtransportiert. Da der Wohnraum nicht ausreichte, wurden vor allem im Westen der Stadt neue Häuserblocks gebaut aber auch Einfamilienhäuser wurden im Norden und Süden der Stadt errichtet. Die Stadt war wieder Kreisstadt und hatte 1960 schon 4466 Einwohner. Zum Wachstum trug in erster Linie der Ausbau des Werkes für chirurgische Instrumente „Chifa“ bei, das die Arbeit des im Krieg aus Berlin verlagerten Windler-Werkes fortführte. Eine Konservenfabrik wurde neu gegründet, ein neues Möbelwerk nahm die Arbeit auf. Korbwaren und Drahtgeflechte werden im erweiterten Umfang hergestellt und in einem Bekleidungswerk werden auch Anzüge für westdeutsche Auftraggeber hergestellt. 1970 betrug die Einwohnerzahl 6725. Ein großer Erholungs- und Tierpark wurde durch freiwillige Aufbaustunden von Betriebsangehörigen zwischen Schützenhaus und „Paprotscher Bergen“ angelegt. Die Goldstraße ist Fußgängerzone geworden, eine neue Grund- und eine Oberschule sowie zwei schöne Vorschulen sind gebaut worden. Neben dem neuen Bibliotheksgebäude wurde in den letzten Jahren ein gefälliges Kulturhaus errichtet. Die Stadtverwaltung ist sehr um ein sauberes Stadtbild bemüht. Es gibt Kanalisation mit einem Klärwerk im Süden der Stadt in der Nähe des Landgrabens. Die Einwohnerzahl ist auf über 12 000 gestiegen und besonders nach Betriebsschluß herrscht auf den beiden Märkten und Straßen ein reges Leben.

In vielen offiziellen Veranstaltungen zum Stadtjubiläum wird auf die großen Aufbauleistungen nach dem 2. Weltkrieg hingewiesen werden können. An die deutschen Bewohner bei Gründung des Ortes wird wohl kaum gedacht werden. Die alten Häuser aus dieser Zeit sind verschwunden. Nur ein Haus am Neuen Markt, an der Ecke der Straße zum Gaswerk, ist restauriert worden und soll im alten, etwas verbessertem Zustand erhalten bleiben. Die evangelische Kirche ist aber unter Denkmalsschutz gestellt worden und wurde mit staatlichen Mitteln renoviert. Sie war der Anlaß zur Gründung des Ortes und erinnert somit an die Urbarmachung des Wald- und Sumpfgebietes durch deutsche Bauern auch heute noch.