
Weidenvorwerk heute Nowy Dwór – noerdlich von Zbaszyn / Bentschen gelegen – Ausschnitt Messtischblatt
Ein Bericht von Herrn Alexander Schmidt-Klahr, Nachfahre der Familie Funck, über Weidenvorwerk, dem heutigen Nowy Dwor.
Alle veröffentlichten Bilder (bis auf den Teilausschnitt des Messtischblattes) im nachfolgenden Beitrag stammen aus Privat- und Familienbesitz; sie werden hier mit ausdrücklicher Genehmigung des Einsenders veröffentlicht.
In Memoriam:
F r i e d r i c h F u n c k 24.08. 1809 bis 13.03.1861 Weidenvorwerk
H e r m a n n F u n c k 24.06. 1811 bis 20.01.1892 Görlitz
R o b e r t F u n c k 23.08. 1840 bis 02.01.1919 Weidenvorwerk
R i c h a r d F u n c k 26.02.1865 bis 13.05.1924 Weidenvorwerk
I d a F u n c k Weidenvorwerk
W e r n e r F u n c k 13.02.1902 bis 1945 Weidenvorwerk
Fräulein K a d o s c h Daten unbekannt, Hausdame; gest. Weidenvorwerk vor 1919
Jede Blüte will zur Frucht,
Jeder Morgen Abend werden,
Ewiges ist nicht auf Erden
als der Wandel, als die Flucht (Hesse)
Der Gutsfriedhof W E I D E N V O R W E R K und seine Geschichte, 1987
Von BENTSCHEN führt der Weg nordwärts nach NOVY DWOR. Man ahnt kaum noch, dass sich dort einmal ein großer landwirtschaftlicher Betrieb befand, der einmal WEIDENVORWERK hieß. Um einen großen Platz angeordnet, größere und kleinere Häuser und die wenigen noch vorhandenen Wirtschaftgebäude lassen das Ehemalige erahnen.
Die Zeiten gingen darüber hinweg, aber die Toten kümmert es wenig, denn sie ruhen abseits von allem und ihre Ruhe ist nicht mehr gestört worden seitdem. Lange war ihr Platz ganz entrückt von allen Geschehnissen und die Natur bedeckte ihr Feld, ganz so, als wolle man sie fernhalten von den Ereignissen der Lebenden und aus dem lichten Blätterwald schaute, die Zeiten überdauernd, lange nur ein kleines, ziegelrotes, quadratisches Häuschen hervor, trotzend allem. Doch all das ahnt man nicht von der Allee aus, die an NOVY DWOR vorbei kilometerlang nach LOMNICA führt und nur der Eingeweihte findet den kleinen Platz mitten im Wald.
Darum, will man die Stelle aber finden, geht man straßenseitig an den ehemaligen Hof-, Wohn- und Wirtschafsgebäuden, bzw. was davon noch übrig ist vorbei, bis dann, wo der Gutshof aufhört ein kleiner Weg zu einer Anreihe von Häuser führt, mit dem, was einen dann erwartet hochtrabenden Namen die „NEUE WELT“. Dann aber, wenn man diese Häuser passiert hat, führt einen der Weg zu dem Platz, wo ganz am Ende nun der Wald anfängt und sich ebendort eine „ANDERE WELT“ finden lässt – nämlich die der Toten.
Ja, da liegen sie alle, die mir bekannten, die Unbekannten und die, die keinen Namen mehr haben. 150 Jahre ruhen einige schon dort und bei vielen weiß man gar nicht mehr wo sie überhaupt ruhen. Ihre Steine sind zerborsten, die Inschriften verwittert, aber doch haben ordnende Hände in den letzten Jahren des nun 21. Jahrhunderts diesen Platz seinem verwunschenen Dasein entrissen und ihn wieder ein Stück weit in unsere Zeit zurück geholt.
…aber 1987 war das noch anders.
Nein, ein öffentlicher Friedhof war es nie. Er war für die, die mit dem Gut in enger Verbindung standen, den Besitzern, Familienangehörigen, Angestellten; ein kleines Stückchen Erde, dreißig mal dreißig Meter vielleicht, mauerumfasst, mit einer ehemals eisernen Pforte, die uns gemahnte:
Haltet inne, und gedenket unser, die wir einmal waren, die wir hier gewohnt haben, den Boden bearbeitet, denen uns dieser Flecken Erde Heimat war.
Wir kommen, wir gehen, aber wir hinterlassen Spuren. Vergesst uns nicht ganz.
So denke ich bei diesen Zeilen an meine Großtante N o r a E l i n o r, denn sie hat euch Tote alle, zumindest für eine weitere Generation der Vergessenheit entrissen und wie so oft hat sie in ihrer Jugend diesen Ort der Stille aufgesucht und noch heute folge ich zuweilen in Gedanken ihren Schilderungen:
„…so gehe ich vom Schloss über den ersten Wirtschaftshof, an dem langen Pferdestall vorbei, passiere den zweiten Hof und zwischen Schweinestall und Kutscherhaus beginnt der viertelstündige Fußweg der Stille unter Kastanien, nur unterbrochen durch das Lärmen der spielenden Kinder der kleinen Ansiedlung mit dem bedeutungsvollen Namen „NEUE WELT“, um dann noch ein gutes Stück des Weges zu gehen, die schattige Allee weiter in den Wald kommend, um dann vor dem kleinen Friedhof halt zu machen. Das Tor ist verschlossen, mit dem großen Schlüssel schließe ich die schwere, eiserne Friedhofspforte auf. In der Mitte, gleichsam das Zentrum markierend, zum Symbol einer kleinen Ewigkeit und mit dem Wunsch die Zeiten zu überdauern, steht in rötlichen Klinkern das Mausoleum. Ein kleiner, quadratischer neogotischer Bau, verschlossen mit einer schweren Holztür, abweisend einem Fremden gegenüber, der sich einmal hierher verirren könnte und nicht zur Familie gehört, ihm den Weg und Blick ins Innere dieser Ruhestätte verwehrend. Der zweite eiserne Schlüssel gibt mir aber den Weg frei ins Innere, aber schwer nur lässt sich die Tür öffnen. Welch überwältigender Eindruck: durch die großen, runden Fenster zur linken und zur rechten Seite fällt das gedämpfte Licht der Buntglasfenster ein, was sich mit der modrigen Luft zu einer ganz besonderen und eben nur an solchen Orten zu findenden Stimmung vereint. Absolute Ruhe umgibt diesen Ort . . .
Nur wenige Schritte ins Innere und ich stehe vor einem schmiedeeisernen, niedrigen Gitter, neogotisch auch dieses und auch hier wieder eine kleine Tür. Sie sperrt den Zugang ab, die Steintreppe hinab zu den beiden Särgen, die in einer Vertiefung stehen, rechts und links von dieser. Durch dieses kleine, architektonische „Bravourstück“ gewinnt der Raum enorm an Höhe, denn man hat das Gefühl, man steht auf einer Galerie. Der letzte, den beiden Toten geweihte Raum, mit einer sternengemalten, blauen Gewölbedecke, den Mosaikfliesen, dem kleinen Altar, mit der steinernen, aufgeschlagenen Bibel, den Altarleuchtern und seiner dunklen, gotisierenden Ausmalung gibt einem das Gefühl, einer unveränderlichen, irdischen Ewigkeit, ein Ort des ewigen Friedens.
Hier ruhen sie nun: F r i e d r i c h und seine Gattin, der e r s t e Gutsherr aus der Familie F u n c k auf Weidenvorwerk.
So war es bis 1914, aber die Zeiten des Ersten Weltkrieges brachten gewaltige Veränderungen und auch Kampfeshandlungen mit sich, die das Gut, wie viele andere, nicht verschonte, so dass auch dieser kleine Ort in Mitleidenschaft gezogen wurde. Man brach die Särge auf, wohl in der Hoffnung Schmuck zu finden, denn der Krieg hat seine eigene Gesetze und man verschonte auch die Toten nicht. Gut konserviert waren sie, die Toten, nach nunmehr über sechzig Jahren! Aber nach dieser Erfahrung wollte man die Überreste nicht so wie vorher zur Ruhe betten. So entfernte man das Gitter, füllte die Vertiefung mit Erde auf und bedeckte die Stelle mit Fliesen. Nur diese lassen noch in ihrer Legeform und Farbdifferenz ahnen, wo sich die Stelle verbirgt. So zeigt sich nun für die Nachfolgenden, die nichts darum wissen, der Ort heute wie eine kleine Kapelle – und so war es auch gedacht . . . „
Jahre sind vergangen und die, denen dieser Ort WEIDENVORWERK einmal Heimat gewesen ist, sind verstreut in alle Winde, bzw. selbst schon verstorben – aber ihre Geschichten waren bei ihnen, gut gehütet. Und wer kennt sie noch alle, diese Menschen vergangener Generationen und wen interessieren sie überhaupt noch, die, die man nicht einmal mehr kannte. Aber gut behütet, in den Erinnerungen führten sie ihr Eigenleben weiter und keiner hatte mehr Zugriff zu ihnen; aber wie sagt Eichendorff in einem seiner Gedichte:
Schläft ein Lied in allen Dingen, die da träumen fort und fort
und die Welt fängt an zu singen, triffst du nur das Zauberwort
Bilder der „ALTEN WELT“ an den Wänden meiner Großmutter rufen schon als Kind meine Aufmerksamkeit hervor und später dann bei meiner Großtante die noch viel mehr hatte: Aquarelle, Zeichnungen, Fotos, Gemälde und die unverfängliche Neugier eines Kindes in aller Unvoreingenommenheit trifft zuweilen dieses „Zauberwort“, was den Reichtum des Immateriellen in einer Fülle fließen lässt, was anderen oftmals verschlossen bleib. Dank meiner Neugierde hatte ich diese Gabe, die ich auch übergebührlich genutzt habe. Aber mit all diesen Geschichten, Erinnerungen, Fotos und Bildern wird diese Neugierde nur noch größer, es ist wie ein Sog in den man gezogen wird und es heißt: mehr, mehr, mehr…. Und zum Schluss möchte man hin, hin an den Ort, von dem man so viel gehört hat, spüren, sehen was noch da ist von dem, was einem aus Erzählungen mittlerweile so vertraut ist, als sei einem der Ort selbst schon wie ein kleines Stückchen Heimat. Ein Stück Heimat, was einem die Altvorderen übergeben haben, als einen immateriellen Wert, der sich keinen Zeitereignissen mehr zu unterwerfen hat, frei in den Erinnerungen führt er sein Eigenleben, bei jedem auf seine Art, losgelöst von Zeit und Raum!
1987 sind aber die politischen Zeiten noch nicht so, dass man mir nichts, dir nichts nach Polen fährt, denn der Eiserne Vorhang trennt uns. Aber das Interesse ist größer als Barrieren und so besuche ich KAROL WOLNY, den letzten Oberförster von NOWY DWOR. Er und seine Familie wurden für mich der Ausgangspunkt, nun einmal all das zu sehen, was mir schon irgendwie so vertraut ist. – Er will mir alles zeigen, denn er ist der „imaginäre Statthalter“ für dieses „immaterielle Erbe“. Er hat über all die Jahre die Erinnerung wachgehalten an die Familie meiner Großmutter. Aber es geht nicht so schnell, wie ich es gerne möchte, denn den ersten Tag kann er noch nicht mit mir nach NOWY DWOR. Doch die Ungeduld ist nicht zügelbar. Mit dem Rad mache ich mich alleine auf, 20 km von BABIMOST nach WEIDENVORWERK. Als erstes will ich den Friedhof aufsuchen. Von ihm, sagt er, ist am meisten erhalten.
Über den Hof, den alten Weg, kann man nicht mehr, er ist eingezäunt. So fahre ich die Chaussee an den noch erhaltenen Gebäuden vorbei, Zeugen ehemaliger Gutsherrlichkeit des 19ten Jahrhunderts, vorbei um die „NEUE WELT“ zu passieren, nicht ohne an meinen Urururgroßvater HERMANN FUNCK zu denken, der dieses Agglomerat von Häusern für die Gutsuntertänigen hat errichten lassen, für die Privilegierten, wohlgemerkt und in bester Absicht seiner Zeit, pittoresk anzusehen, aber fernab von unseren Vorstellungen von heute. Auch ist selbst die schattenspendende Kastanienallee verschwunden. Aber weiter führt der Weg, bis am Ende der staubigen Straße nun der Wald anfängt – licht, hell und sonnendurchflutet; nie habe ich mit solch einem Bewusstsein so viele Akazien einen Wald durchmischen sehen. Nichts Düsteres, nichts Bedrückendes umfängt einen, nichts vermittelt dieser Wald, was man sonst meist mit einem Wald verbindet. Das gleißende Sonnenlicht dieses Frühsommertages, gedämpft und gemildert, gleichsam gefiltert für diesen ganz besonderen Tag.
Eigentlich müsste er doch schon auftauchen, dieser kleine Gutsfriedhof – und da – linker Hand diese kleine Gruftkapelle, mit den hellroten Klinkern, all die Zeiten überdauernd. Nur der obere Teil durchbricht das Grün der Akazien als sichtbares Zeichen dieses stillen Ortes. Der kleine Weg ist zu einem Pfad geworden, keine Pforte hindert mehr den direkten Zutritt. Still im Einklang mit der Umgebung hat sich der Wald sein ursprüngliches Feld zurückerobert. Aber er hat sein Werk noch nicht vollenden können. Moosüberzogener Stein und Grün beherrschen den Ort – und Efeu, wie viel Efeu überall! Aber es sind noch nicht alle sichtbaren Spuren getilgt, auch wenn die kleine Friedhofsmauer, gerade so hoch gewesen, dass es schon Schwierigkeiten machte sie zu überklettern, aber doch noch niedrig genug, dass sie den Blick für das Dahinter freigab, seine schützende Funktion verloren hat und größtenteils eingefallen ist. So trete ich ein, wo ehemals die Pforte den Zutritt Fremder verwehrte.
Zweifelsohne, auch jetzt noch, in seinem Stadium des Niederganges hat dieses, das Zentrum beherrschende Mausoleum Friedrichs die weitaus größte Anziehung und das, obwohl FRIEDRICH FUNCK mir von allen besser vertrauten Vorfahren am weitesten entfernt ist, eigentlich in den Erzählungen nie auftauchte und schon damals unendlich weit weg war, entrückt in die Ewigkeit und nur durch seine Grabentweihung erwähnt und dadurch nicht ganz vergessen war. Keine Holztür schützt mehr die ursprüngliche Weihe des Inneren, keine steinerne Bibel ist mehr vorhanden; Flaschen und Zigarettenstummel und die beschmierten Wände lassen ahnen, welche Funktion der kleine Tempel nun mit zu erfüllen hat – ein Ort profaner Kurzweil, jungen Menschen zuweilen Zuflucht gebend in der eigenen Perspektivlosigkeit. Intuitiv vielleicht doch gar keine so schlechte Idee dich, Friedrich, etwaigen unruhigen, zukünftigen Zeiten dem Blickfeld zu entziehen!
Auf Friedrich folgte HERMANN FUNCK als zweiter Gutsherr und nun suche ich dich, der du hier auch irgendwo begraben liegst. Aber ich finde dich nicht. Nichts, gar nichts mehr. Namenlos ist dein Platz. Aber dein Bild ist mir gegenwärtig; der Landmann, kräftig in seiner Statur, vorwärtsblickend, den Fuß auf Neuland setzend, ein richtiger „Marschall Vorwärts“ des Ackerbaus. Nicht zu fein, nicht zu grob, gerade das richtige Maß treffend; einer, der sich nicht im Ewigen verliert, sondern der an Ort und Stelle, im Jetzt und Heute seinen Raum sah, der die Wirtschaft voran brachte, dem Boden das Beste abgewann, sein Monument dem Leben setzte! So gedenke ich deiner, der du doch nicht ganz vergessen bist.
Aber die Gräber der anderen, mir aus den Erzählungen vertrauten, die sind noch da!
ROBERT FUNCK war der dritte Herr auf WEIDENVORWERK und er war der Großvater von meiner Großmutter. Er war ihr so präsent wie mir meine Großmutter. Darum umfängt mich auch eine gewisse Vertrautheit als ich sein Grab entdecke. Unleserlich sein Name auf dem Sockel, ihn, den man P a p p u s c h nannte. Er hat kein Mausoleum, aber eine imposante Engelsgestalt auf diesem hohen, marmornen Sockel, alles in allem mehr als zwei Meter hoch, ragt aus dem Untergestrüpp hervor und zeigt mir die Stelle, wo er vor fast siebzig Jahren zu Ruhe gekommen ist. Aber auch dieser Engel hat die Zeiten nur mäßig überdauert. Totenkranz und sein Haupt sind ihm in den kopflosen Zeiten abhanden gekommen, ebenso seine Flügel, als wolle man uns vergegenwärtigen, dass die Schwerelosigkeit und das engelsgleiche Dasein ein erhabenes, aber auch verletzbares Gut sind! Aber noch harrt er den Zeiten und so kommen mir Arnims Zeilen aus dem Kronenwächter in den Sinn:
Gib Liebe mir und einen frohen Mund,
Dass ich dich, Herr, der Erde tue kund.
Gesundheit gib bei sorgenfreiem Gut
Ein frommes Herz und festen Mut;
Gib Kinder mir die aller Liebe wert,
Verscheuch die Feinde von dem trauten Herd;
Gib Flügel dann und einen Hügel Sand,
Den Hügel Sand im lieben Vaterland,
Die Flügel schenk dem abschiedsschweren Geist,
Dass er sich leicht der schönen Welt entreißt.
Aber hier gibt es kein Entreißen mehr. Doch Teile der Inschrift auf dem Sockel lassen sich doch noch entziffern: …geliebt und …dankbarer Sohn. Aber kein Fremder weiß, wer da liegt und kein Gitter wie ehemals schafft die optische Distanz zwischen Einst und Heute, zwischen Diesseits und Jenseits. Ganz profan zeigt sich die Vergänglichkeit, Stück für Stück auch hier das zurückerobernd, was der Mensch einmal für eine kleine Ewigkeit gemeint geschaffen zu haben. ROBERT FUNCK, der „Grandseigneur“ , Mann seiner Zeit! Mit dem nötigen Wohlwollen, aber auch schon mit der gewissen Distanz zu den direkten Niederungen des Alltäglichen – der Inbegriff des klassischen Gutsherren des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Siebenundzwanzig Jahre lang uneingeschränkter Herr auf WEIDENVORWERK und ROKIETNICA bei POSEN. Doch so glanzvoll wie viele Jahre seines Lebens in wirtschaftlich-finanzieller Hinsicht auch gewesen sein mögen, ahnungsvoll hat auch er die zukünftigen Änderungen in seinen letzten Lebensjahren zu spüren bekommen. Was für eine Beerdigung hat er sich vorgestellt und was für eine hat er bekommen! Nichts von einem glanzvollen Abgang eines Gutsherrn, „verscharrt“ bei Nacht und Nebel, denn die Zeiten standen auf Krieg. Obwohl offiziell schon zu Ende, fanden weitere Kampfeshandlungen statt. Das Schloss war verdunkelt, die Fenster vernagelt, der Hof beschossen. So wagte man ihn nicht bei Tage beizusetzen und der Kutscher und ein Hausdiener mussten ihn bei Dunkelheit zum Friedhof karren, im engsten Kreis der Familie und möglichst ohne Aufsehen, der Partisanen wegen. Mit ihm endete eine Epoche und der Zeitpunkt seiner Beerdigung war auch der Anbeginn einer neuen sozialen Ordnung und eben auch Hoffnung für viele, die nicht so privilegiert waren.
Nun folgte RICHARD FUNCK, der Sohn von ROBERT und Vater meiner Großmutter, als neuer Besitzer auf WEIDENVORWERK, bzw. NOWY DWOR, wie es jetzt wieder offiziell hieß. Zwar nur für wenige Jahre, die er dem Wiederaufbau und der Restrukturierung gewidmet hat, denn gesundheitlich zerrüttet, war ihm nicht allzu viel Zeit verblieben. Sein Grab ist nicht zu übersehen. Breit gelagert die Steinfragmente die massig die Stirnseite des Gräberfeldes abschließen. Nur die Basis ist noch vorhanden – rechts und links, unter Büschen versteckt, sind die seitlichen Begrenzungen aber noch erkennbar: zwei kniehohe Säulen mit Kugeln als Abschluss, der Rest ist nach hinten übergekippt. Rudimentär aber ist die ehemals erhaben gedachte Gestaltung noch erkennbar, wenn denn genügend Phantasie vorhanden ist, oder man zumindest weiß, dass sie dem Jugendstil angelehnt ist. Doch die Tafel mit den Namen, die die Wand krönte, sozusagen abschließend in die Komposition integriert war, ist an die Basis angelehnt, so dass man die Namen erkennt. Von diesem ehemaligen Zentrum setzen rechts und links in Volutenschwüngen die Seiten an, um dann an den beiden Säulen auszulaufen. In der ganzen Breite umfasst eine kleine, niedrige Steineinfassung ein größeres Feld und darin wiederum markieren zwei ebenfalls eingefasste Flächen die eigentlichen Gräber von R i c h a r d und seiner zweiten Frau I d a. Auch sie sind efeuüberwuchert, so dass ich einen Ableger mitnehme, um ihn auf das Grab meiner Großmutter zu pflanzen und ebenso nehme ich eine Hand voll Erde mit, ein kleiner, symbolische Akt für diesen von ihr so geliebten Ort WEIDENVORWERK.
Ein Grab aber ist den Zeiten noch nicht entrückt. Ein aufgehäufter Erdhügel mit Feldsteinen umlegt und einem kleinen Holzkreuz zeigen, dass jemand den hier Ruhenden noch nicht ganz vergessen hat. Nur das Sterbejahr und der Name sind mit Farbe aufgemalt. Es ist WERNER FUNCK, gestorben 1945 mit dreiundvierzig, der Sohn von Richard und Ida. Ihm ist CAROL WOLNY in Dankbarkeit verbunden und der Grund, dass ich so wohlwollend von ihm und seiner Familie aufgenommen wurde. Er pflegt dieses letzte Grab.
Ein Grab, nein es ist ein achtlos liegender Stein, weckt mein Aufmerksamkeit. Teilweise erdbedeckt entziffere ich die lange Inschrift, die in Treue und Dankbarkeit einer Frau gewidmet ist und am Schluss steht, welche Kuriosität, nicht der Name der dort Begrabenen, sondern der Name von ROBERT FUNCK, meinem Ururgroßvater. Aber ich entsinne mich den Erzählungen meiner Großtante und das Bild nimmt Formen an: es ist Fräulein KADOSCH, die Hausdame von ROBERT, die ihn sechsunddreißig Jahre treu begleitete, wie ich lese; kein Geburts-oder Sterbedatum, nichts weiter als nur der gut leserliche Text; ein fast schon sentimentaler Akt, der aber doch auch solange nach dem Tode dieser beiden Menschen einen kleinen Einblick in die Gefühle der Dankbarkeit und auch der Fähigkeit und Bereitschaft dies zum Ausdruck zu bringen zeigt, in einer Zeit, wo mehr Haltung als Emotion gemeinhin üblich waren, mehr Form als Gefühl angesagt war.
So schaue ich mir diesen kleinen, verwunschenen Friedhof an, sitze bei den Gräbern, die all die Zeiten mehr oder weniger überdauert haben, lasse das Leben der von uns gegangenen Revue passieren und denke an die Erzählungen meiner Großtante, deren innigster Wunsch es immer war, all das von ihr so geliebte und mit dem Begriff Heimat verbundene Stückchen Erde vor ihrem Tode noch einmal wiederzusehen. Dieses Gut auf dem sie und ihre Schwestern eine glückliche Kindheit und Jugend verbrachten, frei und losgelöst von Begriffen wie Besitz, Zugehörigkeit, Nation war etwas, dass sie alle durch das Leben begleitete und diesen Ort niemals vergessen ließen.
Und so erinnere ich mich noch einer weiteren Erzählung, die mit diesem Friedhof in Verbindung steht. Es hat auf die Kinder, die sie damals waren, doch einen so nachhaltigen Eindruck gemacht, dass dieser Vorfall innerhalb der Familie nie ganz in Vergessenheit geriet. Wer es letztendlich war und wie er hieß, daran kann ich mich beim besten Willen nicht erinnern und vielleicht wusste es meine Großtante nach all den Jahren auch selbst gar nicht mehr. Es war keiner aus der Familie, aber einer, der freiwillig aus dem Leben schied und dem man darum die Beisetzung auf dem öffentlichen Friedhof verweigerte, was ROBERT FUNCK dazu veranlasste, die Erlaubnis zu geben diesen Unglücklichen auf diesem Familienfriedhof zur Ruhe zu betten, damit er nicht in ungeweihter Erde verscharrt werden musste.
Wie viele Gräber gibt es dort von Menschen, die zwar zur Familie gehörten, oder mit ihr in Verbindung standen, die aber über die Zeiten langsam in Vergessenheit geraten sind, von denen man heute nichts mehr weiß, von denen auch ich nichts weiß. Und die “ Ewigen Lichter“, eine Tradition, die wir Protestanten nicht kennen, berühren mich besonders, wenn ich mir heute, 2011, die Bilder im Internet anschaue, bis wohin es dieser kleine, ehemals so lange vergessene und verschwiegene, im Wald eingebettete Ort gebracht hat; zu sehen, dass eine neue Generation das Erbe beider Nationen, die doch auch teilweise in familiären Banden verbunden waren, wieder mit einbezieht.
In Gedenken
meiner Großmutter M a r g a K L A H R geb. F u n c k,
meiner Großtante N o r a E l i n o r S t a c h geb. F u n c k
und B e r n d F u n c k
Alexander S.-Klahr, Portugal 2011