Der Artikel stammt aus den Posener Stimmen Ausgabe 10/2010;
Veröffentlicht wurde dieser Beitrag mit der freundlichen Genehmigung der Posener Stimmen – Heimatbrief der Gemeinschaft Evangelischer Posener (Hilfskomitee E.V.)
Der Einladung von Herrn Bleeker-Kohlsaat in den „Posener Stimmen“, vom 3. Und 8 Juni 2010 eine allerletzte Busfahrt nach Neutomischel durchzuführen, ließen sich 22 „Ehemalige“ nicht entgehen.
Der Beginn der Busfahrt stand nicht gerade unter dem besten Stern, aber als in Königswusterhausen und Fürstenwalde die letzten Teilnehmerinnen eingestiegen waren, ging es zügigund frohgemut unserem Ziel entgegen.
Zwar war es bereits kurz vor 19.00h, als wir am Ziel waren, aber die Dame in der Wechselstube wartete auf uns, und auch im „Goldenen Adler“ wurden wir freundlich begrüßt und ausgezeichnet und sehr lecker bewirtet. Dazu trugen das gute Bier und der Wodka zur guten Stimmung bei.
Nachdem die Aufteilung der Zimmer in den beiden Hotels schnell erledigt war, ehrte die doch ersehnte Ruhe ein.
Nach guter Nacht erwarteten uns am Morgen ein tolles Erlebnis und interessantes Programm. Treffpunkt um 9.00 Uhr vor dem Atrium-Hotel.
Dort wurden wir vom Bürgermeister, Herrn Henryk Helwing, und einigen seiner Mitarbeiter; der Leiterin der Entwicklungs- und Promotionsabteilung, Frau Ewelina Szofer-Pajchrowska, und Frau Milena Leszczynska, begrüßt. Außerdem gehörten zu den Begleitern Frau Iwona Soltysiak (uns bekannt vom Regionaltreffen in Berlin-Weißensee, wo sie über ihre Magisterarbeit – da Thema „Posener Stimmen“ referiert hat), Herr Przemek Mierzejewski und Herr Wojciech Szkudlarski, die uns als Dolmetscher und Erklärer zur Verfügung standen.
Erst besahen wir den sehr gepflegten und schön gestalteten Chopinplatz – früher Alter Markt – mit der ehrwürdigen Kirche, die gut renovierten Häuser mit vielen eleganten Geschäften und dem liebevollen Blumenschmuck.
Durch die „Goldstraße“, die eine einladende Fußgängerzone geworden ist, mit vielen Ruheplätzen, schönen Blumenkübeln aus Korbgeflecht und einladenden Geschäften, ging die aufschlussreiche Führung weiter. Eindrucksvoll wirkten auch die vielen Durchgänge – früher zu den Höfen -, die Wände, Türen und teilweise Fenster sind mit fantasievollen Weidenflechtereien verschönt, die Böden oft mit Mosaiken. Alles eine tolle künstlerische Bereicherung.
Sogenannte Stolpersteine – auf die uns Herr Helwing aufmerksam machte, sind die Wegweiser zum einmalig schön gestalteten „Neuen Markt“ mit dem weltberühmten großen Weidenkorb. Er steht seit 2 Jahren im Guiness-Buch der Rekorde, und das verdient.
Nicht nur der Korb ist bestaunenswert, sondern der ganze Platz, das ganze Ensemble.
Herr Helwing erzählte uns über die Herstellung des Riesenkorbes, wie viel Korbflechter daran beteiligt waren und in welch kurzer Zeit dieses Werk gefertigt wurde. Die Bepflanzung ist auch bewundernswert, wir durften sogar die „Inneneinrichtung“ besichtigen und wie die Wasserversorgung funktioniert.
Ein weiterer wichtiger Punkt seiner Ausführungen war die wirtschaftliche Entwicklung der Stadt. Als 3 Säulen bezeichnete er die Wirtschaft: Er nannte den Spargelanbau, die Weidenwirtschaft mit allen Zweigen und den Hopfenanbau. Unübersehbar war, dass sich viel Industrie um Neutomischel angesiedelt hat und die Infrastruktur – dank Europäischer Union – boomt.
Für uns war erfreulich festzustellen, dass sich überall sichtbar ein solider Wohlstand angesiedelt hat. Erkennbar an den vielen schönen, neuen Häusern und der Zunahme der Einwohnerzahl.
Weiter ging die Führung ins Kulturzentrum, vorbei am Musikpavillion – einer Muschel aus Weidengeflecht, die in einer schönen Anlage steht. Im Kulturhaus wurden wir von der Leiterin herzlich begrüßt und mit gedeckten Tischen, Kaffee, Tee und Gebäck überrascht. Die eindruckvollste Überraschung war dann ein neuer Film über Neutomischel in deutscher Sprache. Zwei Stunden hatte sich Herr Bürgermeister Helwing mit seinen Mitarbeitern für uns Zeit genommen. Vielen, vielen Dank!
Nach diesem großen Erlebnis hieß es nun schnell rein in den Bus, denn wir wurden schon in Steinberg erwartet – von Steinbergern initiiert -, wir besuchten und besichtigten auf dem evangelischen Friedhof den Gedenkstein und ließen den Gedanken freien Lauf. Ehemalige Steinberger haben in Eigeninitiative diesen Ort so schön gestaltet. Vielen Dank dafür.
Danach gab es einen herzlichen Empfang im Schulhaus – durch die Direktorin und den Bürgermeister von Steinberg -, und bei viel Kuchen und Kaffee wurden Erinnerungen ausgetauscht. Und draußen auf der Straße war ein großes Storchennest, die Storcheltern klapperten freudig über ihren Nachwuchs.
Der Tag hatte noch mehr Überraschungen. Wieder zurück in Neutomischel, hieß es umsteigen in den Kremser. Mit 2 PS ging es, am ehemaligenevangelischen Friedhof vorbei, nach Glinau, durch eine neue schöne Wohnsiedlung. Unser Ziel war ein alter großer Bauernhof, der zur Erlebnisranch umgebaut war. Hier konnte sich jeder seinen Neigungen hingeben (auch Bierflaschen angeln). Besonders geschmackvoll die vielen Anlagen mit Blumen, Kräutern, Hecken, Bäumen, Bänken und Ruhezonen. Für das leibliche Wohl sorgte ein riesiger Grill mit leckeren Würsten, dazu Gurken, Brot, Tee (aus frischer Minze) und auch Bier. Erstaunlich, was man an einem Tag alles mitmachen kann!
Der nächste Tag stand für Ruhe und Erholung. Es ging an den Lagow-See. Der liegt ziemlich westlich in bergiger-waldreicher Gegend, mit einer mittelalterlichen Burg und alten Stadttoren. Einige bestiegen den Turm, andere genossen die Ruhe, die Schönheit der Natur.
Nach einem vorzüglichen Mittagessen fuhren wir zum Korbmacher, um immer wieder Körbe, Truhen und Hocker einzukaufen.
Weiter ging die Fahrt über Neutomischel, Kirchplatz, Neu Borui. Dort hat ein polnischer Museumsdirektor ein altes Bauernhaus aus dem Jahre 1822 erworben, um darin ein ethnologisches Museum einzurichten. Zurzeit ist das Haus so weit gesichert, dass das Dach und die Wände dicht sind und die Fenster schließen. Der alte Herd tut wieder seinen Dienst, die Deckenbalken sind abgeschmirgelt, das Trinkwasser muss von weit her mitgebracht werden, aber ansonsten kann man nur im Sommer dort verweilen. Zwei Historikerinnen und seine Frau sind dem Museumsdirektor bei dieser schweren Arbeit behilflich.
Für dieses entstehende Museum werden vom Direktor alte Gebrauchsgegenstände, Möbel und Unterlagen jener Zeit gesucht. Zu bewundern ist der Enthusiasmus, mit dem dieser Mann an dieses schwere Werk geht und sich bemüht, die Geschichte vor „Ihnen“ zu rekonstruieren
Am Sonntag fuhren wir nach Posen, über die bekannte Strecke Sontop-Opalenitza. Da in Posen ein großes Fest stattfand und alle Straßen fast unpassierbar waren, fuhren wir nach kurzer Rundfahrt weiter nach Slupa-Welka, Herrn Bleeker-Kohlsaats Heimat. In dem wunderschönen und gepflegten Park erholten wir uns und lauschten den Jugendspäßen unseres Reiseleiters.
Auf der Tages-Rückfahrt machten wir noch einmal in Posen Halt, tranken im Bremer ein kühles Bier und besuchten eine wunderschöne Kirche.
Ein weiterer Höhepunkt auf unserer Heimfahrt war die Einkehr auf der Hazienda. Der angekündigte „weiße Vogel“ im Prospekt war eine viertel oder halbe Ente (je nach Wunsch des Gastes) und wurde mit Rotkohl, Hefeklößen satt und viel Soße serviert. Das Essen war ganz delikat und die schöne Tischdekoration war das i-Tüpfelchen.
Beglückt und fröhlich traten wir die Heimfahrt an. Dabei wurde mir persönlich ein großer Wunsch erfüllt. Unser lieber Günter fuhr nicht den direkten Weg, sondern über Milostowo-Kuschlin, die Heimat meiner Mutter, Großeltern und Urgroßeltern. Über Rose, Wonsowo, Alttomischel kehrten wir nach Neutomischel zurück.
Heute, Montag, unserem letzten Tag, fuhren wir über Sontop nach Opalenitza und weiter nach Grätz. Auch Grätz hat sich sehr zum Vorteil verändert. Die Häuser haben helle Anstriche bekommen, die Dächer neu gedeckt, die Straßen erneuert und auch hier viel Blumenschmuck und Grünanlagen. Aber der Hauptgrund in Grätz war der Leinöleinkauf. Es soll das allerbeste Öl sein!
Nach diesen Einkäufen ging es nun nach Konkolewo, so richtig aufs Land, in die Puscheken. Dass der Bus diese Landwege heil überstanden hat, ist das Fahrwunder unseres Günters. Hier suchte zwischen Bäumen, Wiesen, Gräben und Äckern Frau Rölling nach ihrem ehemaligem Zuhause, von dem nichts stehen geblieben war. Und welch Glück, zielstrebend über eine Wiese suchend fand sie den Baum, unter dem der Brunnen noch sichtbar war (Foto auf der nächsten Seite).
In Neutomischel zurück, stürmten einige noch die Molkerei, um den besten Kochkäse zu erwerben. Wir beiden echten Neutomischler machten uns von hier auf den Weg, den Friedhof zu besuchen, um am Grab von Ida Pilatschek und dem Gedenkstein mit Grabstelle für die verstorbenen evangelischen Christen still zu werden. Auch unseren Freund Weber und Malke legten wir Blumen ans Grab. Mit einem ausgedehnten Erinnerungsmarsch besuchten wir noch die uns lieg gewesenen Orte bei Ruschkawe, Glinau und den Feldweg Girndts, Heckes.
Den Abend verbrachten wir zusammen bei einem Piroggenessen im Kopernik und anschließend im „Schwarzen Adler“, um uns mit den jungen polnischen Freunden, Frau Iwona Soltysiak und Herrn Przemek Mierzejewski, zu treffen. Die Überraschungen des Abends: Die beiden brachten für alle Teilnehmer vom Herrn Bürgermeister Helwing je eine DVD, ein Erinnerungsfoto vom Weidenkorb und 3 Ansichtskarten vom „neuen“ Neutomischel mit.
Unsere Freude war riesengroß und vor lauter Stimmengewirr war es kaum möglich, unseren Dank zu übermitteln oder ein Gespräch zu führen.
An diesem letzten Abend war auch Dieter Maennel wieder in unserer Runde. Er hatte sich gleich am ersten Tag nach unserem Rundgang abgesetzt, um mit Herrn Mierzejewski – der ja gut Deutsch spricht und an der Historie sehr interessiert ist – Spuren der Lutheraner zu finden. In der alten Kirche, jetzt Herz-Jesu-Kirche, fand er tatsächlich mit Hilfe des Pfarrers den Taufstein der ehemaligen lutherischen Kirche. Seine Freude war riesengroß.
Der Abreisetag brachte nochmals eine Überraschung: Es hieß, rechtzeitig zum Frühstück und Kofferverladen, Herrn Bürgermeister Helwing kommt und möchte sich verabschieden.
Schnell waren die Koffer verstaut, der Spargel eingekauft und schon war der Ehrengast da. Auch Herr Przemek Mierzejewski mit seiner Gattin Margaretha war gekommen.
Der Bürgermeister dankte für unser kommen, für das entgegengebrachte Interesse und hoffte, dass wir wiederkommen. Mit guten Wünschen für die Heimreise endete er mit dem Satz: „Denn wir gehören doch zusammen.“ Diesen Satz konnten wir nach all den guten und positiven Eindrücken nur bejahen.
Mit seinem Wagen fuhr er voraus und zeigte uns nun den neuen Zubringer zur Autobahn. Dann drehte er unter Winken um. Still und nachdenklich traten wir die Heimfahrt an.
Ganz herzlich möchte ich Herrn Bleeker-Kohlsaat für die gute Vorbereitung und Durchführung und unseren Kapitän Günter Wenzel für seine sichere, ruhige und umsichtige Fahrt danken.
Ursula von Straßmann